Während sich die politische Bildung - ebenso wie ihre primäre
Bezugswissenschaft - schon längere Zeit von der (nationalen)
Demokratiekunde emanzipiert hat und sich auch mit internationalen
Themen befasst, werde kaum gesehen, so Wolfgang Sander, "dass
Globalisierung die politische Bildung zunächst mit der Notwendigkeit
konfrontiert, sich selbst zu internationalisieren, den Käfig der
nationalen Kulturen, in denen sie entstanden ist, zu öffnen und den
Anschluss an den in den Wissenschaften üblichen Grad an
Internationalisierung zu finden." [6]
Das Problem der Nationalstaats-Fixierung stellt sich also für die
politische Bildung in doppelter Weise: Zum einen bleibt sie selbst (institutionell)
dem nationalen Rahmen verhaftet, zum zweiten wird sie von der
Politikwissenschaft als Bezugswissenschaft im Stich gelassen, wenn es
um die Entwicklung tragfähiger Kategorien und Konzepte für die "postnationale
Konstellation" [7] geht.
Das Problem der "nationalen" Kategorien
Was ist gemeint, wenn davon die Rede ist, dass Kategorien und Methoden
nicht mehr greifen, weil sie der (zu Ende gehenden) Epoche und damit
auch der Analyseeinheit des Nationalstaats entstammen? Damit ist zum
einen und auf einer sehr hohen Abstraktionsebene gemeint, dass "die
die bisherige Weltsicht tragende Unterscheidung von national und
international aufgelöst" werde. [8] Lässt sich im
EU-Europa noch zwischen Innen- und Außenpolitik unterscheiden?
Betreibt der deutsche Umweltminister im entsprechenden Ministerrat in
Brüssel Außenpolitik?
Offensichtlich - und dieses Beispiel soll genügen, um die Problematik
zu verdeutlichen - machen die traditionellen Kategorien "Innenpolitik"
und "Außenpolitik" zumindest in diesem Zusammenhang keinen Sinn mehr.
Klaus Seitz weist darauf hin, dass "die grenzüberschreitende
Vernetzung und Verdichtung sozialer Interaktionen die vertrauten
Konturen des politischen Gemeinwesens zusehends verschwimmen (lässt),
soweit es als nationalstaatlich verfasst vorgestellt wird. Umgekehrt
können auch Ereignisse und Entwicklungen im sozialen Nahraum ohne
Rückgriff auf globale Strukturen und Einflüsse nicht mehr hinreichend
verständlich gemacht werden." [9]
Ulrich Beck fasst die Problematik zusammen, die hier als eines von
sechs Grundproblemen der EU-Vermittlung unter der Überschrift "Nationalstaats-Fixierung"
eingeführt wurde:
|
"Der Nationalstaatsglaube beruht, meist
unreflektiert, auf den folgenden Prämissen: Gesellschaft wird mit
Nationalstaatsgesellschaft gleichgesetzt; Staaten und ihre Regierungen
gelten als Eckpunkte der politikwissenschaftlichen Analyse. Man geht
davon aus, dass die Menschheit in eine endliche Zahl von Nationen
zerfällt, die sich im Inneren als Nationalstaaten organisieren, nach
außen im System internationaler Beziehungen gegeneinander abgrenzen.
Mehr noch: Die Abgrenzung nach außen sowie die Konkurrenz zwischen
Nationalstaaten untereinander stellt das fundamentale
Organisationsprinzip des Politischen dar. Der Nationalstaatsglaube
wird insbesondere von reflektierten Politikwissenschaftlern damit
begründet, dass Demokratie nur im Nationalstaat verwirklicht
worden, mehr noch: verwirklichbar sei: Ohne Nationalstaat keine
Demokratie, weshalb die 'postnationale Konstellation' ... die
Demokratie gefährdet." [10]
|
Das verweist auf ein sehr aufschlussreiches Beispiel, nämlich die Diskussion um das
Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU, das an anderer Stelle im
Rahmen dieses Abschnitts vertieft wird, nämlich im Zuge der
Beschäftigung mit der fehlenden Referenzebene als Problem der
EU-Vermittlung [» zu diesem
Abschnitt]. [11]
Hier wird deutlich, dass die in diesem Abschnitt aus analytischen
Gründen unterschiedenen sechs Kategorien von Grundproblemen der
EU-Vermittlung in der Praxis aufs engste verknüpft sind und sich
wechselseitig beeinflussen. Dass eine Referenzebene bei der Behandlung
der EU beispielsweise im schulischen Politikunterricht fehlt, hängt
natürlich mit dem hier behandelten Problem zusammen, dass es zwar gut erprobte "nationale"
Kategorien, aber eben (noch) keine etablierten "trans- oder postnationalen"
Kategorien in der Politikwissenschaft gibt.
Folgeprobleme für die EU-Vermittlung
Die Schwierigkeiten für den politischen Bildner liegen auf der Hand.
Wie soll man einen Sachverhalt behandeln, wenn einem die Begriffe
fehlen? Entweder er entscheidet sich hinsichtlich der zu verwendenden
Begriffe für einen Autor, verwendet dessen Begriffe, übernimmt
damit zwangsläufig auch dessen Perspektive, oder er versucht gemäß den
Prinzipien der Wissenschaftsorientierung und Kontroversität die
gegenwärtig chaotische Situation in der primären Bezugswissenschaft im
Unterricht oder Seminar zu berücksichtigen, was einen Lernerfolg
äußerst unwahrscheinlich werden lässt.
Der Weg zurück ist aber auch keine gangbare Alternative, denn dass die
vom Nationalstaat als Bezugssystem bekannten Kategorien im EU-Europa
nicht mehr greifen, kann als vergleichsweise gesicherte Erkenntnis
gelten.
Außerdem ist natürlich in Rechnung zu stellen, dass Stofffülle und
Komplexität beträchtlich zunehmen, wenn man das vertraute Terrain der
Nationalstaats-Fixierung verlässt, die Forderung nach der
Internationalisierung politischer Bildung ernst nimmt und
beispielsweise Umweltpolitik mit europäischer Perspektive zu behandeln
versucht.
[Seitenanfang]
Anmerkungen:
[1] |
Vgl.
dazu neben vielen anderen Veröffentlichungen:
Ulrich Beck, Macht
und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie,
Frankfurt am Main 2002.
ULRICH BECK/EDGAR GRANDE, Das kosmopolitische
Europa, Frankfurt/Main 2004.
Hier schreiben die Autoren im Vorwort: "Die Euphorie (oder auch
die Skepsis) um das neue, größere Europa können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Europa noch immer unverstanden, unbegriffen
ist. Diese historisch einmalige und einzigartige Form der
zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen
Gemeinschaftsbildung entzieht sich allen gängigen Kategorien und
Konzepten. Am Beispiel Europas zeigt sich besonders deutlich, wie
historisch wirklichkeitsfremd und stumpf unsere politischen
Begriffe und das theoretische Instrumentarium der
Sozialwissenschaften geworden sind - sind beide doch noch immer in
dem Denkgebäude eines methodologischen Nationalismus gefangen" (S.
7).
Nach wie vor grundlegend zu den Folgen von Europäisierung und
Globalisierung auf Regieren und Demokratie:
Beate Kohler-Koch
(Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/1998,
Opladen 1998. Im einleitenden Aufsatz schreibt die Herausgeberin:
"Wenn nun Grenzüberschreitung zur Alltäglichkeit wird, die Grenzen
der wirtschaftlichen, kulturellen und auch politischen
Handlungsräume über die sich national definierenden Gesellschaften
hinaus expandieren und unterschiedliche Prozesse von Inklusion und
Exklusion die gedachte und normativ beanspruchte Einheitlichkeit
der demokratischen Gesellschaft auflösen und der politische Raum
abhanden kommt, kann die Zukunft der Demokratie nicht mehr mit
traditionellen Kategorien erfasst werden" (S. 11-12).
Das paradoxe Verhältnis von Globalisierung und europäischer
Integration - den zwei Großthemen, anhand derer in dieser Arbeit
Vermittlungsprobleme und Lösungsansätze für die politische Bildung
diskutiert werden - wird an anderer Stelle näher beleuchtet. Dort
finden sich auch weiterführende Literaturhinweise
(»
zum
Abschnitt "EU und Globalisierung").
[zurück zum Text]
|
[2] |
In
diesem Zusammenhang muss auf die Ambivalenzen der Diskussion um
Entgrenzung, Globalisierung und Regionalisierung hingewiesen
werden: Einerseits - aus dem Blickwinkel der nationalen Ebene -
handelt es sich beim EU-Mehrebenensystem um ein Beispiel für
besonders weit fortgeschrittene Entgrenzung, andererseits gilt
aber auch: "Die weitgehende Kongruenz von Nationalstaat und
Nationalökonomie sind Geschichte. Grenzen werden supranational in
regionalen Blöcken gesetzt. Dabei ist die Europäische Union
besonders weit fortgeschritten" (Elmar
Altvater, Ort und Zeit des Politischen unter den
Bedingungen ökonomischer Globalisierung, in: Dirk Messner (Hg.),
Die Zukunft des Staates und der Politik. Möglichkeiten und Grenzen
politischer Steuerung in der Weltgesellschaft, Bonn 1998, S. 92).
[zurück zum Text]
|
[3] |
Vgl.
dazu ausführlich:
Siegfried Frech u.a. (Hg.), Internationale Beziehungen in
der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2000.
[zurück zum Text]
|
[4] |
Wolfgang Sander,
Politische Bildung nach der Jahrtausendwende. Perspektiven und
Modernisierungsaufgaben; in: Aus Politik und Zeitgeschichte
45/2002, S. 38,
Online-Version.
[zurück zum Text]
|
[5] |
Wolfgang Sander,
Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der
politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft; in:
Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 11.
[zurück zum
Text]
|
[6] |
Wolfgang Sander,
Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der
politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft; in:
Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 23.
Die hier nur kurz angesprochenen Aspekte der bisherigen
politikdidaktischen Auseinandersetzung mit den Themen EU und
Globalisierung werden an anderer Stelle vertieft:
» EU und Politikdidaktik
»
Globalisierung und
Politikdidaktik
[zurück zum Text]
|
[7] |
Jürgen Habermas,
Die postnationale Konstellation,
Frankfurt/Main 1998.
Bezogen auf die EU-Forschung führen Jachtenfuchs und Kohler-Koch
hierzu aus: "Das eigentliche Defizit nicht nur der
politikwissenschaftlichen Integrationsforschung besteht darin,
dass sie über politische Ordnung ... jenseits der vertrauten
Ordnungssysteme 'Staat' und 'Staatenwelt' nicht nachzudenken
vermag, weil die Denkmuster in den Sozialwissenschaften wie in der
Rechtswissenschaft in diesen in der Neuzeit geprägten
Ordnungsstrukturen der Moderne gefangen sind und ihnen deshalb
schon die Begrifflichkeiten fehlen, ein Regieren jenseits der
Staatlichkeit überhaupt zu konzeptualisieren" (Markus
Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren im dynamischen
Mehrebenensystem; in: dies. (Hg.), Europäische Integration,
Opladen 1996, S. 30).
[zurück zum Text]
|
[8] |
Ulrich Beck, Macht
und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie,
Frankfurt/Main 2002, S. 9.
Bei dem zitierten Satz handelt es sich um eine Kernthese des
Buches (wie auch früherer Werke des Autors), die an vielen Stellen
in ihren Voraussetzungen und Folgen beleuchtet und mit Leben
gefüllt wird. Beck gibt aber auch zu bedenken: "So richtig es ist,
die Nationalstaatsfixierung abzustreifen, weil der Staat nicht
mehr der Akteur des internationalen Systems, sondern ein
Akteur unter anderen ist, so falsch wäre es, das Kind mit
dem Bade auszuschütten und mit der Kritik am
nationalstaatsfixierten Blick die mögliche Handlungsfähigkeit und
Selbsttransformation des Staates im globalen Zeitalter aus dem
Blick zu verlieren" (S. 31).
Besonders interessant für die in diesem Abschnitt behandelten
Fragen ist Becks Diskussion der Probleme des "methodologischen
Nationalismus" in den Sozialwissenschaften auf den Seiten
50-54 und 84-94.
Stellvertretend für viele weitere Beiträge sei auf
die Ausgabe 1/2005 der Zeitschrift "Internationale Politik"
verwiesen, die den programmatischen Titel trägt: "Alles ist
Außenpolitik". Im Editorial schreibt die Chefredakteurin
Sabine Rosenbladt:
"In Zeiten der Globalisierung lassen sich 'Innen-' und
'Außenpolitik' kaum noch voneinander trennen. Das 'Ausland' ist
nicht mehr 'draußen' - es ist hier, es betrifft täglich deutsche
Arbeitsplätze, deutsche Bildung, deutsche Forschung, deutsche
Wettbewerbsfähigkeit, deutsche Kultur" (S. 1).
Das analoge Problem für die Geschichtswissenschaft
beschreibt Hanna Schissler:
"Weltgeschichte markiert jedoch nicht als Ansammlung
transnationaler Geschichtserzählungen einfach nur eine neue Ebene
oberhalb der nationalen Geschichtsschreibung. Sie ist ein
neuartiges, oder, wie die Soziologen dies nennen, 'emergentes'
Phänomen: 'Die Spezifik emergenter Phänomene liegt darin, dass sie
mit dem bisherigen theoretischen Wissen nicht hinreichend zu
erklären sind'" (Weltgeschichte als Geschichte der sich
globalisierenden Welt; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1/2005,
S. 38,
Online-Version; das Zitat im Zitat stammt von Theresa Wobbe,
Weltgesellschaft, Bielefeld 2000, S. 75).
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[9] |
Klaus Seitz,
Lernen für ein globales Zeitalter. Zur Neuorientierung der
politischen Bildung in der postnationalen Konstellation; in:
Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 46-47.
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[10] |
Ulrich Beck, Macht
und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie,
Frankfurt/Main 2002, S. 50.
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[11] |
Einen
wichtigen Aspekt des Demokratiedefizits der EU und der Problematik
der fehlenden Kategorien spricht das folgende Zitat an: "Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von
Maastricht die Position vertreten, dass demokratische Prozesse
letztlich nur in einer Gesellschaft stattfinden können, in der um
unterschiedliche politische Positionen im Parteienwettbewerb und
im medienvermittelten öffentlichen Diskurs gestritten wird.
Europäische Parteien und einen europäischen politischen Diskurs
gibt es jedoch nicht. Dieses Urteil zeigt in exemplarischer Weise,
wie schwer es fällt, eine legitime politische Ordnung in anderen
Kategorien als den vom Modell des hoch integrierten
Nationalstaates angebotenen zu denken" (Markus
Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren im dynamischen
Mehrebenensystem; in: dies. (Hg.), Europäische Integration,
Opladen 1996, S. 34).
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