Legitimation durch erfolgreiche Problembearbeitung
Die gängige Antwort lautet: über ihren Erfolg. Internationale
Organisationen legitimieren sich durch die Fähigkeit zur Lösung
grenzüberschreitender Probleme, durch Output-Legitimation. Aus diesem
Grund sind sie ja überhaupt erst von den Staaten ins Leben gerufen
worden, nämlich um Probleme zu bearbeiten, die von jedem Staat allein
nicht sinnvoll bearbeitet werden können. [2]
Bezogen auf die Gemeinschaft bedeutet das: Solange die Bevölkerungen
in den Mitgliedstaaten mit den Brüsseler Entscheidungen zufrieden
waren, oder zumindest nicht in einem Maße unzufrieden, dass sie die
Integration in Frage stellten, solange konnte die Politik der
Gemeinschaft als legitim gelten. Trotzdem bestand das "Demokratiedefizit".
Man muss also zwischen Demokratie- und Legitimationsdefizit
unterscheiden, auch wenn sich beide wechselseitig beeinflussen.
Input- und Output-Legitimation
Diese Unterscheidung entspricht weitgehend derjenigen zwischen Input-
und Output-Legitimation. Die vor allem aus den demokratischen
Verfahren resultierende Input-Legitimation war bei der Gemeinschaft
immer schwach ausgeprägt. Allerdings nur, wenn man mit nationalen
liberaldemokratischen Systemen vergleicht - und hier rückt bereits die
Schnabeltier-Problematik ins Blickfeld (»
fehlende Referenzebene). Dann erfüllt die EG/EU nämlich nicht
einmal die Mindeststandards demokratischer Entscheidungsfindung, die
sie selbst von Beitrittskandidaten fordert.
Vergleicht man aber mit Internationalen Organisationen traditioneller
Prägung, dann können sich die Legitimationsressourcen durchaus sehen
lassen. Immerhin verfügt die Gemeinschaft seit 1979 über ein direkt
gewähltes Parlament und ihr Rechtssystem ist in der internationalen
Politik ohne Beispiel.
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Mangelnde Input-Legitimation
Geht man davon aus, dass sich die Legitimität einer politischen
Ordnung "zugleich auf Grundnormen, auf konstitutive Verfahren und auf
die (empirische) Anerkennung der Bürger" [3] stützt,
so lässt sich das Defizit näher bestimmen. Das Problem bilden vor
allem die Verfahren und die Anerkennung durch die Bürger, wobei sich
beide Faktoren wechselseitig beeinflussen.
Der permissive consensus, die Basis der Europapolitik, ist eine
schwache Ausprägung des supports für ein politisches System, ein eher
desinteressiertes und uninformiertes Zuschauen seitens der Bürger, das
den Eliten relativ freie Hand ließ beim Aufbau Europas. |
Unterfüttert wird diese Form der Legitimität zum einen durch die eher
diffuse und ebenfalls nachlassende Zustimmung zur "Idee Europa", das
heißt Motive, die zur Gründung der westeuropäischen Gemeinschaften
nach Kriegsende geführt haben und nach wie vor fortwirken, wie
Versöhnung oder "Europa als dritte Kraft", zum anderen durch die
Wohlfahrtsgewinne (Output-Legitimation). Diese Faktoren waren
allerdings nicht stark genug, um die Ausbildung einer "kollektiven
Identität" im EG/EU-Europa zu befördern (mangelnde soziale
Legitimation).
Überstrapazierung des permissive consensus
Es ergibt sich folgendes Bild: Die Legitimationsressourcen der EG in
den ersten Jahrzehnten des Einigungsprozesses waren nicht gerade
beeindruckend, insbesondere mangelte es an input- und sozialer
Legitimation. Gemeinsame Grundnormen und ein permissive consensus
reichten zusammen mit Erfolgen auf der Output-Seite aber aus für eine
Gemeinschaft als Zweckverband zur Regelung von wirtschaftlichen
Interdependenzproblemen.
Diese Ressourcen waren darüber hinaus weitgehend konstant, tendenziell
ist durch die schrittweise Aufwertung des Europäischen Parlaments seit
der ersten Direktwahl 1979 sogar ein Mehr an demokratischer Qualität
der Verfahren zu verzeichnen. Erklärungsbedürftig ist demnach nicht in
erster Linie das Demokratie- beziehungsweise Legitimationsdefizit der
Gemeinschaft, sondern dessen Virulenz seit Maastricht.
Allgemein gehalten lautet die Antwort auf die Frage nach der
Legitimationskrise der EU, dass die bisherige legitimatorische Basis -
der permissive consensus - durch die Entwicklungen der letzten
beiden Jahrzehnte überstrapaziert wurde und einem verbreiteten
Misstrauen gegenüber dem "Maastricht-Europa" gewichen ist. In dem Maße,
wie sich die EG/EU von einer Internationalen Organisation weg zu etwas
anderem entwickelte, wurden ihre Legitimationsressourcen an denjenigen
nationaler politischer Systeme gemessen und traten die Defizite
deutlicher zutage. Die bisherige Form der Legitimation reichte damit
nicht mehr aus.
Probleme mit dem Maßstab
Den Maßstab nationaler liberaldemokratischer Systeme anzulegen, ist
insofern nicht ungerechtfertigt, als die Gemeinschaft mit der ersten
Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 eben diesen Anspruch
erhoben hat. Nur hat sich in der Folge gezeigt, dass die Einlösung
dieses Anspruchs auf schwerwiegende Hindernisse stieß. Vorhandene
Demokratiemodelle erwiesen sich als strukturell ungeeignet zur
Übertragung auf die supranationale Ebene, weil sie auf Nationalstaaten
zugeschnitten und mit ihnen unentwirrbar verflochten sind
(»
Nationalstaats-Fixierung).
Das Grundproblem des Regierens im europäischen Mehrebenensystem
besteht also darin, dass die herkömmlichen Verfahren, die sich im
Rahmen territorial verfasster Nationalstaaten entwickelt haben, in
dieser neuartigen, nicht-hierarchischen und entgrenzten Umwelt nicht
mehr greifen. Die Virulenz des Problems "Regieren ohne Staat" - und
damit des Legitimationsproblems - in der EU lässt sich also auch in
der Perspektive dieser allgemeinen und bedeutenden Entwicklungen
erklären, die eine große und bislang nur in Ansätzen verstandene
Herausforderung für die Demokratietheorie darstellen.
[4]
Häufig wird in diesem Zusammenhang zurecht darauf hingewiesen, dass
nicht vergessen werden darf, dass auch im nationalen Rahmen die als
Maßstab zugrundeliegenden "Idealvorstellungen" von Demokratie
nirgendwo verwirklicht sind. Insbesondere das Regieren in Netzwerken
mit den damit verbundenen Problemen der Kontrolle und Transparenz
findet sich in den Mitgliedstaaten der EU ebenfalls. Das lässt zwar
die normativen Probleme des Mehrebenensystems in einem etwas milderen
Licht erscheinen, ändert grundsätzlich aber nichts an der Problematik,
die nun abschließend zusammengefasst werden soll.
Fazit: Die EU zwischen politischem System und Internationaler
Organisation
Die EU ist keine Internationale Organisation mehr. Besonderheiten wie
ein direkt gewähltes Parlament und das Rechtssystem (Vorrang und
Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts) verbieten diese Kategorisierung
ebenso wie die weitreichenden und breiten Regelungsbefugnisse bis hin
zur Alleinzuständigkeit in einzelnen Politikfeldern. Die EU steckt
sich den rechtlichen Rahmen selbst und verfügt über eigene Ressourcen.
Sie ist aber auch kein politisches System, wie man es aus dem
nationalen Rahmen kennt. Sie hat - um nur einige Aspekte zu nennen -
kein staatliches Gewaltmonopol, keine ausreichende eigenständige
Legitimität und umfasst Bereiche wie die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, die sich durch traditionelle zwischenstaatliche
Zusammenarbeit auszeichnen. Insofern kann sie den herkömmlichen
Demokratiemaßstäben nicht genügen. Andererseits kann aber auf "Demokratie"
auch nicht verzichtet werden.
Fehlende Referenzebene als Grundproblem der EU-Vermittlung
Schon für die Analyse des Problems - ganz zu schweigen von der Lösung
- fehlt eine tragfähige Referenzebene. Mit wem oder was soll
erkenntnissteigernd verglichen werden? Wie soll man diese Sache
Lehrerinnen und Lehrern in der knapp bemessenen Fortbildungszeit nahe
bringen? Wie kann diese Komplexität für den Unterricht reduziert
werden, ohne der Realität zu großes Unrecht zu tun?
Mit dem Hinweis jedenfalls, für das Schnabeltier EU, dieses System sui
generis, brauche es Demokratieverfahren und Legitimationsressourcen
sui generis, werden Schülerinnen oder Seminarteilnehmer wenig
anzufangen wissen.
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Anmerkungen:
[1] |
Vgl. dazu
neben vielen anderen Veröffentlichungen:
Arthur Benz, Ansatzpunkte
für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: Beate Kohler-Koch
(Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/1998, S.
345-368.
Einen wichtigen Referenzpunkt der Debatte bildet nach wie vor
folgender Beitrag: Peter
Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie; in: Markus Jachtenfuchs/Beate
Kohler-Koch (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S.
47-71.
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[2] |
Grundlegend zum
Thema: Volker Rittberger/Bernhard
Zangl,
Internationale Organisationen. Politik und Geschichte, Wiesbaden
2002.
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[3] |
Hella Mandt, "Legitimität",
in: Dieter Nohlen (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd.1
Politikwissenschaft (herausgegeben von Dieter Nohlen und Rainer-Olaf
Schultze), München 19893, S. 503.
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[4] |
Dieser Problematik
widmet sich ein bedeutsamer Strang der Europaforschung seit Mitte
der 1990er Jahre. Beispielhaft sei auf eine jüngere Publikation
verwiesen, die genau das Problem der fehlenden Referenzebene zum
Ausgangspunkt nimmt und beansprucht, der Europaforschung, die
bislang in einem Entweder-Oder zwischen Nationalstaat und
Internationaler Politik gefangen sei, neue Impulse zu verleihen.
Sie plädiert für eine "neue Kritische Theorie der Europäischen
Integration" (S. 47), verstanden als "Anleitung für den Umgang mit
Ambivalenzen" (S. 48):
ULRICH BECK/EDGAR GRANDE, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft
und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main 2004.
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