Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Grundprobleme der EU-Vermittlung (Exkurs)  

 Beispiel: Demokratie- und Legitimationsdefizit

Forderungen nach mehr Demokratie in Europa sind alles andere als neu, die Rede vom "Demokratiedefizit" der EG begleitet Integration und Integrationsforschung seit der Gründungsphase. Tatsächlich litt der europäische Einigungsprozess - wie jede zwischenstaatliche Zusammenarbeit - von Anfang an unter einem "Demokratieproblem". [1]

 Legitimation in der internationalen Politik

Wenn Regierungen erfolgreiche internationale Verhandlungen führen sollen, so setzt das eine gewisse Handlungsfreiheit dieser Regierungen voraus. Nationale Parlamente als die Hauptquelle von Legitimation in liberaldemokratischen Systemen haben in der Außenpolitik nicht die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie innenpolitisch. Das liegt in der Natur der Sache, Innen- und Außenpolitik laufen nach unterschiedlichen Prozessmustern ab.

Diese defizitäre Form von Demokratie, verglichen mit den Verhältnissen in nationalen Systemen, die lange und brüchige Repräsentationskette vom Bürger bis zum international verhandelnden Regierungsvertreter, eignet allen Internationalen Organisationen. Allen ist gemeinsam, dass sie sich nicht über die traditionellen, aus dem nationalen Rahmen bekannten, demokratischen Verfahren legitimieren. Wie lässt sich zwischenstaatliche Politik dann rechtfertigen?

Probleme der Vermittlung von Globalisierung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene


Probleme der EU-Vermittlung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene
 


 Legitimation durch erfolgreiche Problembearbeitung

Die gängige Antwort lautet: über ihren Erfolg. Internationale Organisationen legitimieren sich durch die Fähigkeit zur Lösung grenzüberschreitender Probleme, durch Output-Legitimation. Aus diesem Grund sind sie ja überhaupt erst von den Staaten ins Leben gerufen worden, nämlich um Probleme zu bearbeiten, die von jedem Staat allein nicht sinnvoll bearbeitet werden können. [2]

Bezogen auf die Gemeinschaft bedeutet das: Solange die Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten mit den Brüsseler Entscheidungen zufrieden waren, oder zumindest nicht in einem Maße unzufrieden, dass sie die Integration in Frage stellten, solange konnte die Politik der Gemeinschaft als legitim gelten. Trotzdem bestand das "Demokratiedefizit". Man muss also zwischen Demokratie- und Legitimationsdefizit unterscheiden, auch wenn sich beide wechselseitig beeinflussen.

 Input- und Output-Legitimation

Diese Unterscheidung entspricht weitgehend derjenigen zwischen Input- und Output-Legitimation. Die vor allem aus den demokratischen Verfahren resultierende Input-Legitimation war bei der Gemeinschaft immer schwach ausgeprägt. Allerdings nur, wenn man mit nationalen liberaldemokratischen Systemen vergleicht - und hier rückt bereits die Schnabeltier-Problematik ins Blickfeld (» fehlende Referenzebene). Dann erfüllt die EG/EU nämlich nicht einmal die Mindeststandards demokratischer Entscheidungsfindung, die sie selbst von Beitrittskandidaten fordert.

Vergleicht man aber mit Internationalen Organisationen traditioneller Prägung, dann können sich die Legitimationsressourcen durchaus sehen lassen. Immerhin verfügt die Gemeinschaft seit 1979 über ein direkt gewähltes Parlament und ihr Rechtssystem ist in der internationalen Politik ohne Beispiel.

 Mangelnde Input-Legitimation

Geht man davon aus, dass sich die Legitimität einer politischen Ordnung "zugleich auf Grundnormen, auf konstitutive Verfahren und auf die (empirische) Anerkennung der Bürger" [3] stützt, so lässt sich das Defizit näher bestimmen. Das Problem bilden vor allem die Verfahren und die Anerkennung durch die Bürger, wobei sich beide Faktoren wechselseitig beeinflussen.

Der permissive consensus, die Basis der Europapolitik, ist eine schwache Ausprägung des supports für ein politisches System, ein eher desinteressiertes und uninformiertes Zuschauen seitens der Bürger, das den Eliten relativ freie Hand ließ beim Aufbau Europas.

Unterfüttert wird diese Form der Legitimität zum einen durch die eher diffuse und ebenfalls nachlassende Zustimmung zur "Idee Europa", das heißt Motive, die zur Gründung der westeuropäischen Gemeinschaften nach Kriegsende geführt haben und nach wie vor fortwirken, wie Versöhnung oder "Europa als dritte Kraft", zum anderen durch die Wohlfahrtsgewinne (Output-Legitimation). Diese Faktoren waren allerdings nicht stark genug, um die Ausbildung einer "kollektiven Identität" im EG/EU-Europa zu befördern (mangelnde soziale Legitimation).

 Überstrapazierung des permissive consensus

Es ergibt sich folgendes Bild: Die Legitimationsressourcen der EG in den ersten Jahrzehnten des Einigungsprozesses waren nicht gerade beeindruckend, insbesondere mangelte es an input- und sozialer Legitimation. Gemeinsame Grundnormen und ein permissive consensus reichten zusammen mit Erfolgen auf der Output-Seite aber aus für eine Gemeinschaft als Zweckverband zur Regelung von wirtschaftlichen Interdependenzproblemen.

Diese Ressourcen waren darüber hinaus weitgehend konstant, tendenziell ist durch die schrittweise Aufwertung des Europäischen Parlaments seit der ersten Direktwahl 1979 sogar ein Mehr an demokratischer Qualität der Verfahren zu verzeichnen. Erklärungsbedürftig ist demnach nicht in erster Linie das Demokratie- beziehungsweise Legitimationsdefizit der Gemeinschaft, sondern dessen Virulenz seit Maastricht.

Allgemein gehalten lautet die Antwort auf die Frage nach der Legitimationskrise der EU, dass die bisherige legitimatorische Basis - der permissive consensus - durch die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte überstrapaziert wurde und einem verbreiteten Misstrauen gegenüber dem "Maastricht-Europa" gewichen ist. In dem Maße, wie sich die EG/EU von einer Internationalen Organisation weg zu etwas anderem entwickelte, wurden ihre Legitimationsressourcen an denjenigen nationaler politischer Systeme gemessen und traten die Defizite deutlicher zutage. Die bisherige Form der Legitimation reichte damit nicht mehr aus.

 Probleme mit dem Maßstab



Den Maßstab nationaler liberaldemokratischer Systeme anzulegen, ist insofern nicht ungerechtfertigt, als die Gemeinschaft mit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 eben diesen Anspruch erhoben hat. Nur hat sich in der Folge gezeigt, dass die Einlösung dieses Anspruchs auf schwerwiegende Hindernisse stieß. Vorhandene Demokratiemodelle erwiesen sich als strukturell ungeeignet zur Übertragung auf die supranationale Ebene, weil sie auf Nationalstaaten zugeschnitten und mit ihnen unentwirrbar verflochten sind Nationalstaats-Fixierung).

Das Grundproblem des Regierens im europäischen Mehrebenensystem besteht also darin, dass die herkömmlichen Verfahren, die sich im Rahmen territorial verfasster Nationalstaaten entwickelt haben, in dieser neuartigen, nicht-hierarchischen und entgrenzten Umwelt nicht mehr greifen. Die Virulenz des Problems "Regieren ohne Staat" - und damit des Legitimationsproblems - in der EU lässt sich also auch in der Perspektive dieser allgemeinen und bedeutenden Entwicklungen erklären, die eine große und bislang nur in Ansätzen verstandene Herausforderung für die Demokratietheorie darstellen. [4]

Häufig wird in diesem Zusammenhang zurecht darauf hingewiesen, dass nicht vergessen werden darf, dass auch im nationalen Rahmen die als Maßstab zugrundeliegenden "Idealvorstellungen" von Demokratie nirgendwo verwirklicht sind. Insbesondere das Regieren in Netzwerken mit den damit verbundenen Problemen der Kontrolle und Transparenz findet sich in den Mitgliedstaaten der EU ebenfalls. Das lässt zwar die normativen Probleme des Mehrebenensystems in einem etwas milderen Licht erscheinen, ändert grundsätzlich aber nichts an der Problematik, die nun abschließend zusammengefasst werden soll.

 Fazit: Die EU zwischen politischem System und Internationaler Organisation

Die EU ist keine Internationale Organisation mehr. Besonderheiten wie ein direkt gewähltes Parlament und das Rechtssystem (Vorrang und Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts) verbieten diese Kategorisierung ebenso wie die weitreichenden und breiten Regelungsbefugnisse bis hin zur Alleinzuständigkeit in einzelnen Politikfeldern. Die EU steckt sich den rechtlichen Rahmen selbst und verfügt über eigene Ressourcen.

Sie ist aber auch kein politisches System, wie man es aus dem nationalen Rahmen kennt. Sie hat - um nur einige Aspekte zu nennen - kein staatliches Gewaltmonopol, keine ausreichende eigenständige Legitimität und umfasst Bereiche wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die sich durch traditionelle zwischenstaatliche Zusammenarbeit auszeichnen. Insofern kann sie den herkömmlichen Demokratiemaßstäben nicht genügen. Andererseits kann aber auf "Demokratie" auch nicht verzichtet werden.

 Fehlende Referenzebene als Grundproblem der EU-Vermittlung

Schon für die Analyse des Problems - ganz zu schweigen von der Lösung - fehlt eine tragfähige Referenzebene. Mit wem oder was soll erkenntnissteigernd verglichen werden? Wie soll man diese Sache Lehrerinnen und Lehrern in der knapp bemessenen Fortbildungszeit nahe bringen? Wie kann diese Komplexität für den Unterricht reduziert werden, ohne der Realität zu großes Unrecht zu tun?

Mit dem Hinweis jedenfalls, für das Schnabeltier EU, dieses System sui generis, brauche es Demokratieverfahren und Legitimationsressourcen sui generis, werden Schülerinnen oder Seminarteilnehmer wenig anzufangen wissen.

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Anmerkungen:

[1]

Vgl. dazu neben vielen anderen Veröffentlichungen: Arthur Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: Beate Kohler-Koch (Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/1998, S. 345-368.
Einen wichtigen Referenzpunkt der Debatte bildet nach wie vor folgender Beitrag: Peter Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie; in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 47-71.
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[2]

Grundlegend zum Thema: Volker Rittberger/Bernhard Zangl, Internationale Organisationen. Politik und Geschichte, Wiesbaden 2002.
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[3]

Hella Mandt, "Legitimität", in: Dieter Nohlen (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd.1 Politikwissenschaft (herausgegeben von Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze), München 19893, S. 503.
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[4]

Dieser Problematik widmet sich ein bedeutsamer Strang der Europaforschung seit Mitte der 1990er Jahre. Beispielhaft sei auf eine jüngere Publikation verwiesen, die genau das Problem der fehlenden Referenzebene zum Ausgangspunkt nimmt und beansprucht, der Europaforschung, die bislang in einem Entweder-Oder zwischen Nationalstaat und Internationaler Politik gefangen sei, neue Impulse zu verleihen. Sie plädiert für eine "neue Kritische Theorie der Europäischen Integration" (S. 47), verstanden als "Anleitung für den Umgang mit Ambivalenzen" (S. 48):
ULRICH BECK/EDGAR GRANDE, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main 2004.
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