Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Europäische Union und Politikdidaktik (I)  

 Teil I: Fachwissenschaft

(Diskussion vorhandener didaktischer Ansätze der EU-Vermittlung entlang des von Georg Weißeno herausgegebenen Sammelbandes "Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts", BpB Bonn 2004)

Der dreigliedrige Aufbau des hier diskutierten Sammelbandes - Fachwissenschaft, Fachdidaktik, Unterrichtspraxis - verweist auf einen Wissensvermittlungsprozess, wie er idealiter ablaufen sollte:


Schritt 1: Europaexperten an den Universitäten erforschen unermüdlich ihren komplexen Gegenstand, präsentieren und verfeinern ihre Ergebnisse auf Konferenzen gemeinsam mit der scientific community, und scheuen sich nicht, von Zeit zu Zeit auch über den Kreis der Fachkollegen hinaus als Multiplikatoren tätig zu werden.

Schritt 2
: Spätestens hier kommen die Fachdidaktiker ins Spiel. Sie greifen die Forschungsergebnisse auf und "didaktisieren" sie. Sie stellen das Bindglied dar zu den Lehrerinnen und anderen Multiplikatoren und geben diesen Konzepte und Ideen an die Hand, wie der komplexe Gegenstand in der Praxis erfolgversprechend vermittelt werden kann. Hierzu können sie auf einen beachtlichen Bestand an didaktischen Prinzipien zurückgreifen, wie er sich in der fachdidaktischen Diskussion der letzten Jahrzehnte herausgebildet hat (» siehe Abschnitt "politische Bildung").

Schritt 3: Am Ende der Wissensvermittlungskette stehen die politischen Bildnerinnen, die Teilnehmern oder Schülerinnen Wissen über die EU vermitteln sollen und dabei von beiden vorgelagerten Ebenen profitieren. Werkstattgespräche der Bundeszentrale für politische Bildung - wie das 9. Werkstattgespräch unter den Titel "Neue Zugänge zu Europa im Politikunterricht" im Februar 2003, aus dem der Sammelband hervorgegangen ist - stellen einen institutionellen Rahmen für die Interaktion der Ebenen bereit.

 Mangelnder Wissenstransfer

Die Realität sieht anders aus. Joachim Detjen kommt nach einer Analyse verschiedener Schulbücher und Planspiele zu dem Schluss, dass sich die untersuchten Medien zwar der Komplexität der EU bewusst seien. "Durchweg fehlt allerdings die Charakterisierung der EU als eines verflochtenen Mehrebenensystems. Das aber heißt, dass die politische Bildung den politikwissenschaftlichen Erkenntnisstand bisher offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen hat." [1]

Woran mag das liegen? Zum einen ist auf die Grundprobleme der EU-Vermittlung zu verweisen, wie sie in einem gesonderten Abschnitt dieser Arbeit entlang der Kategorien Nationalstaats-Fixierung, Distanz, Dynamik, Legenden, Komplexität und fehlende Referenzebene dargestellt werden (» Probleme der EU-Vermittlung). Diese Probleme stellen sich natürlich nicht nur für die Adressaten politischer Bildung, sondern auch für die Fachdidaktik wie für die politischen Bildner.

Zum anderen muss sich aber auch die Fachwissenschaft den Vorwurf mangelnder Transferleistungen gefallen lassen - und damit sind wir mitten in der Diskussion von "Teil I: Fachwissenschaft" des Sammelbandes "Europa verstehen lernen". Ein Rezensent bemerkt zu zwei von drei Aufsätzen des fachwissenschaftlichen Teils:

"Alparslan Yenal und Wichard Woyke bieten überblicksartige Darstellungen der 'Europäischen Integration' (Yenal) und der 'Wahlen zum Europäischen Parlament' (Woyke), machen sich aber an keiner einzigen Stelle die Mühe, auf die eigentlichen Fragestellungen dieses Buches einzugehen, also Bezüge zum europapolitischen Lernprozess oder Relevanzkriterien für inhaltliche Auswahlprozesse aufzuzeigen. Es muss leider gesagt werden: 'Fachwissenschaft' präsentiert sich hier einmal mehr durch die bloße Wiederholung von Grundlagenwissen über Institutionen und Politikprozesse, über die anderweitig längst genügend und leicht zugängliches Material vorliegt." [2]

 Tücken der Wissensvermittlungskette

Während diese "Wiederholung von Grundlagenwissen" im Falle Woykes kompetent geschieht, offenbart der Beitrag von Yenal unübersehbare inhaltliche Schwächen, die im folgenden durch ausgewählte Beispiele tabellarisch veranschaulicht werden sollen, nicht zuletzt um exemplarisch die Schwierigkeiten der Wissensvermittlungskette von der Fachwissenschaft über die Fachdidaktik zu den politischen Bildnerinnen aufzuzeigen. [3]

Zitat

Kommentar

"Die Europäische Integration: Ein Integrationsprozess sui generis" (S. 18)

"Sui generis" dient als (Verlegenheits-) Bezeichnung zur Kennzeichnung des EU-Systems, das in der Tat ein System "eigener Art" darstellt, während man wohl jeden Integrationsprozess mit dem Attribut "sui generis" versehen könnte.

"Die Perspektive der Vereinigung bis zur Tiefe einer politischen Union zu verfolgen, war zwar festgeschrieben, aber nicht, wie diese Zielvorstellung zu erreichen ist" (S. 19-20)

Das Schlagwort "Politische Union" war und ist eine Leerformel und findet Verwendung, gerade weil die Finalität im Unklaren gelassen werden soll. Es geht also um das "Was" einer "Politischen Union". Außerdem ist durch die Verwendung der Formel "Politische Union" in Veträgen und anderen Texten gerade nichts "festgeschrieben".

"Die Einheitliche Europäische Akte brachte (die) ... Verwirklichung des Binnenmarktes" (S. 20)

Mit dieser ersten großen Vertragsrevision wurde das Binnenmarktprojekt auf den Weg gebracht, verwirklicht ist er bis heute nicht.

"'Politische Tauschgeschäfte' zwischen den Regierungen, 'Paketlösungen' ... dominieren die Entscheidungsfindung" (S. 20)

Diese Darstellung ist zu undifferenziert. Die Aussage gilt im besten Fall für große, politikfeldübergreifende Weichenstellungen, die aber eben nur einen Teil - wenn auch den medial sichtbarsten - der Entscheidungsprozesse im EU-System ausmachen.

"Dies hat zur Konsequenz, dass die konstitutionelle Struktur der Europäischen Union, wie sie im Maastrichter Vertrag entstanden ist, prinzipiell erhalten wird" (S. 21-22)

Abgesehen davon, dass man wohl nicht ohne Anführungszeichen von einer "konstitutionellen Struktur" der EU schreiben sollte, ist diese sicher nicht in Maastricht entstanden.

"Das Regieren in der EU wird dadurch wesentlich komplizierter, die Legitimation der Problemlösungen, die eher faule Kompromisse sein könnten, fragwürdig" (S. 24)

Diese Aussage bezieht sich auf die in Nizza vorgesehenen Entscheidungsregeln und Stimmengewichte im Rat. Zurecht wird befürchtet, dass die Effizienz des Entscheidungssystems unter den strengeren Anforderungen leiden könnte, warum aber die Legitimation?

"Die Beitrittsverträge bestätigen den Beitrittsländern, dass sie die Kopenhagener Kriterien (Beitrittskriterien) erfüllen" (S. 25)

Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien bildet die Voraussetzung dafür, dass überhaupt Beitrittsverhandlungen mit einem Staat aufgenommen werden.


 Good Practice


Den beiden aus unterschiedlichen Gründen misslungenen Versuchen des Wissenstransfers steht der Beitrag von Gotthard Breit gegenüber, der an der Schnittstelle von Fachwissenschaft und Fachdidaktik anzusiedeln ist und in überzeugender Weise Anregungen und Hilfestellungen für die praktische Umsetzung der schwierigen Thematik "Europäische Identität" vermittelt. [4]

Politische Bildnerinnen werden mit einer Unterrichtsidee versorgt, die wichtige didaktische Kriterien wie Aktualität oder Exemplarität erfüllt und die darin besteht, dass die Diskussion um eine "Europäische Identität" anhand des Beispiels der aktuellen Debatte um den EU-Beitritt der Türkei behandelt wird. Sie erhalten die notwendigen Hintergrundinformationen und einen Überblick über die Streitpunkte der Debatte. Lernziele werden formuliert, und ein umfangreiches Dossier - bestehend aus Zeitungsartikeln von Wehler, Winkler, Habermas und anderen - stellt sogar Materialien für den Unterricht zur Verfügung.

 Fazit

Die Betrachtung des fachwissenschaftlichen Teils des Sammelbandes "Europa verstehen lernen" im Rahmen der Diskussion vorhandener Ansätze der EU-Vermittlung hat ein ambivalentes Bild ergeben. Es hat sich gezeigt, dass Fachdidaktik und Praktiker bei einem aus unterschiedlichen Gründen besonders schwierigen Thema wie der europäischen Integration (» siehe Abschnitt "Grundprobleme der EU-Vermittlung") überfordert sein können.

Nur noch Experten, die sich ausschließlich der EU widmen, scheinen in der Lage, der Diskussion folgen zu können. Andererseits werden diese Experten häufig dem Anspruch nicht gerecht, ihr Wissen nicht nur für die scientific community, sondern auch für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Versuche in diese Richtung bilden neben dem erwähnten Beitrag von Gotthard Breit auch eigene Publikationen zur EU-Vermittlung in der Praxis. [5]

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Anmerkungen:

[1]

Joachim Detjen, "Europäische Unübersichtlichkeiten". Wie soll die politische Bildung mit der Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen Union umgehen?; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 141.
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[2]

Karlheinz Dürr, Europa im Politikunterricht. Buchbesprechung zu: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004; in: Der Bürger im Staat 54. Jg., 1/2004, S. 77-78.
Vgl. auch Jürgen Kocka, Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005, S. 17-22, Online-Version. Kocka führt aus: "Viele Sozialwissenschaftler - besonders wenn sie ausschließlich forschen und nicht gleichzeitig lehren - sehen sich als Produzenten hoch spezialisierten sozialwissenschaftlichen Wissens über enge Teilgebiete, dessen Deutung, Einordnung und Vermittlung über den disziplinären Kontext hinaus sie gern anderen, nämlich spezialisierten Vermittlern, überlassen wollen, statt diese Vermittlung als Teil der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu begreifen" (S. 22).
Den Versuch einer systematischen Aufarbeitung dieser Problematik bietet die WZB-Vorlesung von Friedhelm Neidhart, Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit, Berlin 2002.
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[3]

Alle folgenden Zitate aus: Alparslan Yenal, Europäische Integration. Ein problemorientierter Überblick; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 18-31.
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[4]

Gotthard Breit, Was ist "Europa"? "Europa" in der Argumentation für und gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 51-106 (einschließlich eines Dossiers zum Thema bestehend aus Zeitungsartikeln der Jahre 2002-2003).
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[5]

Ragnar Müller/Wolfgang Schumann/Christian Rapp, Die Europäische Union verstehen. Institutionen, Entscheidungsabläufe und Politik nach Nizza, hg. v. Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002.
Ragnar Müller/Wolfgang Schumann, Die Europäische Union unterrichten. CD-ROM, Foliensatz, Gruppenpuzzle, Lernspiel und Internetaufgabe, hg. v. Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002.
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