Didaktische Prinzipien der
politischen Bildung
Die didaktischen Prinzipien, wie sie sich in der fachdidaktischen
Diskussion der letzten Jahrzehnte herausgebildet haben, bilden den
Kern der Politikdidaktik. Sie operationalisieren die allgemeinen Ziele
politischer Bildung, die häufig mit der Kurzformel "mündiger Bürger"
zusammengefasst werden (» Aufgaben und
Ziele politischer Bildung). Ausgangspunkt für die Herausbildung
dieser Prinzipien war die Beilegung der Kontroversen aus der
Anfangsphase der Politikdidaktik durch den Beutelsbacher Konsens im
Jahr 1976. [1]
Der Beutelsbacher Konsens
|
|
1976 veranstaltete die Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg eine Fachtagung in Beutelsbach, einem beschaulichen
Weinstädtchen in der Nähe von Stuttgart.
"Rückblickend auf
diese Veranstaltung formulierte ein Teilnehmer, Hans-Georg Wehling,
drei Grundprinzipien politischer Bildung, die nach seinem Eindruck auf
der Tagung als Minimalkonsens unwidersprochen geblieben waren."
[2] Dieses Tagungsprotokoll ging als "Beutelsbacher
Konsens" in die Geschichte der politischen Bildung nicht nur in
Deutschland ein [3], markiert den Wendepunkt hin zu
einer Professionalisierung und bildet seither das
Fundament der Politikdidaktik.
"1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler ...
im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der 'Gewinnung
eines selbstständigen Urteils' (Minssen) zu hindern. Hier genau
verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und
Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle
des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum
akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im
Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der
vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche
Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden,
Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination
beschritten ...
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische
Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne
seiner Interessen zu beeinflussen ..." [4]
Didaktische Prinzipien
Mit den Prinzipien "Überwältigungsverbot" und "Kontroversität" sind
zwei zentrale und unverzichtbare didaktische Prinzipien benannt, die
nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen können. Am Ende
einer Unterrichtseinheit müssen mehrere Lösungen für ein politisches
Problem stehen. Die Wahl des "besten" Weges kann und soll der
Schülerin oder dem Teilnehmer nicht abgenommen werden, sondern muss
ihrem bzw. seinem eigenen Urteil überlassen bleiben. Die "Interessenorientierung"
als drittes Prinzip des Beutelsbacher Konsenses hingegen war immer
wieder Gegenstand der Diskussion - nicht im Sinne einer Streichung,
sondern im Sinne einer Ergänzung. [5]
Welche Funktion erfüllen die
didaktischen Prinzipien, wie sie das Schaubild im Überblick darstellt?
Sie bilden den Maßstab und die Referenzebene bei der Erstellung und
Durchführung einer
Lehreinheit im Bereich der politischen Bildung. Es handelt sich um
themenübergreifende Handlungsempfehlungen, die von entscheidender
Bedeutung bei der inhaltlich-methodischen Programmplanung sind, weil
sie helfen, aus einer Fülle von Möglichkeiten und Aspekten
begründet einzelne für die Behandlung im Unterricht oder in
Seminaren auszuwählen.
Die Prinzipien überlappen und ergänzen sich, sie hängen eng
miteinander zusammen. Je nach Themenstellung und Adressaten stehen
andere Prinzipien im Vordergrund, keine Unterrichtseinheit wird allen
gerecht werden. Eine herausgehobene Stellung haben die beiden ersten
Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses inne, da sie immer Beachtung
finden müssen, unabhängig von der Thematik. Politische Bildung, die
gegen das Überwältigungsverbot oder das Prinzip der Kontroversität
verstößt, ist nicht professionell.
|
Politische Bildung muss eng verzahnt sein mit ihren
Bezugswissenschaften, insbesondere mit der Politikwissenschaft als
primärer Bezugswissenschaft. |
|
Politische Bildung knüpft an den Erfahrungen und Interessen der
Adressaten an (in der Erwachsenenbildung firmiert dieses Prinzip
als Teilnehmerorientierung). Im Idealfall gilt: "Was inhaltlich
bearbeitet wird und in welcher Weise dies geschehen soll, wird
weitgehend gleichberechtigt zwischen Lehrenden und Lernenden
verhandelt." Dieses Prinzip versucht, die Konsequenzen daraus zu
ziehen, "dass Lernende nicht als Objekte des Belehrens zu
verstehen sind." [6] |
|
Politische Bildung soll von realen Problemen ausgehen und
vorrangig Wissen und Kompetenzen vermitteln, die zur
Problembearbeitung erforderlich sind. Problemlösungsfähigkeit hat
Vorrang vor Wissensanhäufung. |
|
Politische Bildung kann Themen nie erschöpfend behandeln und muss
sich auf einzelne Aspekte beschränken. Exemplarisches Lernen
bildet eine vertretbare Strategie der Stoff- und
Komplexitätsreduktion. Die Auswahl der zu behandelnden Aspekte
muss zum einen schüler- und problembezogen sein, zum zweiten
exemplarisch für das Thema. Das heißt insbesondere, dass der "politische
Kern" des Themas in den Mittelpunkt rückt. Exemplarisches Lernen
und Lehren "soll ermöglichen, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten im
ausgewählten Problem zu erkennen" [7], und ist
damit eng verzahnt mit dem Prinzip der Problemorientierung.
Exemplarisches Lernen ist wichtiger als das Streben nach
Vollständigkeit. |
|
Politische Bildung soll nach Möglichkeit aktuelle Probleme und
Lösungsvorschläge aufgreifen. Die Lehrinhalte sollen möglichst
wenig abstrakt, sondern anschaulich und einprägsam vermittelt
werden. Zusammen mit Auswahlkriterien wie Betroffenheit und
Bedeutsamkeit der Thematik kann dadurch eine Steigerung der
Motivation seitens der Schülerinnen oder Teilnehmer erreicht
werden. |
|
Politische Bildung geht nach Möglichkeit vom Besonderen - von
anschaulichen Einzelfällen - aus, baut darauf auf und arbeitet das
Allgemeine heraus. Das Prinzip "Induktion vor Deduktion" hängt eng
mit anderen Prinzipien wie Schüler- und Problemorientierung oder
Exemplarität zusammen. |
|
Politische Bildung soll zum einen selbsttätiges Lernen erlauben
und fördern (z.B. durch entsprechende Methoden wie Projektarbeit).
Zweitens geht es aber auch "um das Einüben eines individuellen
Handlungsrepertoires für die politische Auseinandersetzung und
Meinungsbildung" [8] (z.B. durch Einüben von
Schlüsselqualifikationen wie Debattieren oder Präsentieren). Es
geht also um Handlungskompetenz "als politikrelevante
Methodenkompetenz der Schüler" [9].
Mittlerweile wird nahezu das gesamte Spektrum an Methoden vom
Ausfüllen eines Arbeitsblattes bis hin zur Studienfahrt als "handlungsorientiert"
klassifiziert. Eine Übersicht gibt das folgende Schaubild.
[10] |
Folgerungen für diese Arbeit
Für die Zwecke dieser Arbeit bleibt festzuhalten, dass es etablierte
didaktische Prinzipien gibt, welche die allgemeinen Zielvorgaben für
die politische Bildung ("mündiger Bürger",
siehe Aufgaben und Ziele politischer
Bildung) operationalisieren. Diese Prinzipien stellen nicht nur
für die Planung und Durchführung politischer Bildungsmaßnahmen,
sondern auch für das Thema dieser Arbeit - die Problemanalyse und die
Entwicklung von Lösungsansätzen hinsichtlich der Vermittlung komplexer
Themen wie EU oder Globalisierung - eine tragfähige Referenzebene
bereit. Insbesondere an den beiden zentralen Prinzipien -
Überwältigungsverbot und Kontroversität - muss sich jede Arbeit im
Bereich der politischen Bildung messen lassen.
Es wurde aber auch deutlich, dass die etablierten didaktischen
Prinzipien sehr hohe Anforderungen an den Politikunterricht bzw. die
politische Bildung stellen, die gerade bei komplexen Themen wie
europäischer Integration oder Globalisierung schwer einzulösen sind.
Um nämlich bei diesen Themenkomplexen etwa handlungsorientierten und
interessenorientierten Anforderungen gerecht werden zu wollen, ist ein
äußerst hohes Maß an Wissen und Engagement bei den Lehrenden sowie ein
hohes Maß an Grundwissen bei den Lernenden Voraussetzung. Sonst droht
der Einsatz entsprechender Methoden kontraproduktiv zu werden.
[11]
[Seitenanfang]
Anmerkungen:
[1] |
Kurze
Darstellungen zur Geschichte der politischen Bildung und zu den
frühen Kontroversen in der Politikdidaktik in
Deutschland:
Bernhard Sutor,
Restauration oder Neubeginn? Politische Bildung 1945-1960; in: Aus
Politik und Zeitgeschichte 7-8/1999, S. 3-12.
Hermann Giesecke,
Entstehung und Krise der Fachdidaktik Politik 1960-1976; in: Aus
Politik und Zeitgeschichte 7-8/1999, S. 13-23.
Walter Gagel, Der
lange Weg zur demokratischen Schulkultur. Politische Bildung in
den fünfziger und sechziger Jahren; in: Aus Politik und
Zeitgeschichte 45/2002, S. 6-16,
Online-Version.
Bernhard Sutor,
Politische Bildung im Streit um die "intellektuelle Gründung" der
Bundesrepublik Deutschland. Die Kontroversen der siebziger und
achtziger Jahre; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45/2002, S.
17-27,
Online-Version.
Wolfgang Sander,
Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der
politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft; in:
Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 11-24.
Wolfgang Sander,
Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung,
Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 429,
Bonn 2003, S. 113-150.
[zurück zum Text]
|
[2] |
Wolfgang Sander,
Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung,
Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 429,
Bonn 2003, S. 147.
[zurück zum Text]
|
[3] |
Der
Beutelsbacher Konsens wurde in vier Sprachen übersetzt, worauf der
Direktor der Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg, die sich "fast als Gralshüter dieses Konsenses"
fühlt (Siegfried Schiele,
Ein halbes Jahrhundert staatliche politische Bildung in
Deutschland; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 7-8/2004, S. 6,
Online-Version), hingewiesen hat (Siegfried Schiele, Möglichkeiten der politischen
Bildung im 21. Jahrhundert; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 309). Was er nicht wissen konnte,
ist, dass der Beutelsbacher Konsens auch im Rahmen des
internationalen politischen Bildungsprogramms D@dalos, das u.a.
vom Autor geleitet wird, in Südosteuropa große Verbreitung findet,
beispielsweise im Rahmen des sechsmonatigen Fortbildungskurses "Politik
unterrichten in Südosteuropa"; vgl. INGRID HALBRITTER, Politische
Bildung in Südosteuropa - ein Entwicklungsprojekt; in: kursiv
(Journal für politische Bildung) 4/2004, S. 56-65.
[zurück zum Text]
|
[4] |
Hans-Georg Wehling,
Konsens à la Beutelsbach?; in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider
(Hg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart
1977, S. 179-180.
[zurück zum Text]
|
[5] |
Beispielsweise im Sinne einer Ergänzung um einen
Verweis auf das Gemeinwohl. So weist etwa
Siegfried Schiele
darauf hin, "dass immer wieder geprüft werden soll, ob die eigene
Interessenlage auch mit dem Wohl aller vereinbar sein kann" (Möglichkeiten der politischen
Bildung im 21. Jahrhundert; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 309).
Die Diskussion in der Folge des Beutelsbacher Konsenses wird in
den "Konsensbänden" dokumentiert:
Siegfried Schiele/Herbert
Schneider (Hg.), Konsens und Dissens in der politischen
Bildung, Stuttgart 1987.
Siegfried Schiele/Herbert
Schneider (Hg.), Reicht der Beutelsbacher Konsens?,
Schwalbach/Ts., 1996.
[zurück zum Text]
|
[6] |
Beide
Zitate aus: Klaus-Peter
Hufer, Schüler-/Teilnehmerorientierung; in: Wolfgang W.
Mickel (Hg.), Handbuch zur politischen Bildung, Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 358, Bonn 1999, S. 223 und
226.
[zurück zum Text]
|
[7] |
Edgar Weick,
Exemplarisches Lernen; in: Wolfgang W. Mickel (Hg.), Handbuch zur
politischen Bildung, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 358, Bonn 1999, S. 270.
[zurück zum Text]
|
[8] |
Paul Ackermann u.a.,
Politikdidaktik kurzgefasst. Planungsfragen für den
Politikunterricht, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 326, Bonn 1994, S. 148.
[zurück zum Text]
|
[9] |
Heinz Klippert,
Handlungsorientierter Politikunterricht; in: Methoden der
politischen Bildung - Handlungsorientierung, Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 304, Bonn 1991, S. 10.
[zurück zum Text]
|
[10] |
Leicht
verändert nach: Heinz
Klippert, Handlungsorientierter Politikunterricht; in:
Methoden der politischen Bildung - Handlungsorientierung,
Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 304,
Bonn 1991, S. 13.
Zur Kritik am (zwischenzeitlich unscharf oder sogar beliebig
gewordenen) Prinzip der Handlungsorientierung sei
stellvertretend für viele auf den folgenden Aufsatz verwiesen,
der das Prinzip vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte
kritisch hinterfragt:
FRANK NONNENMACHER, Schule im "nationalen Wettbewerbsstaat" -
Instrumentalisierung der politischen Bildung?; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und
Globalisierung, Opladen 2002, S. 237-250.
[zurück zum Text]
|
[11] |
Das
Scheitern handlungsorientierten Politikunterrichts an der
Komplexität der Thematik zeichnet beispielsweise folgender Beitrag
nach: Holger Müller,
Konferenzsimulation zur europäischen Umweltpolitik. Fallgruben im
handlungsorientierten Politikunterricht; in: Georg Weißeno (Hg.),
Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts,
Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423,
Bonn 2004, S. 236-251. Dieses Beispiel wird an anderer Stelle
ausführlich besprochen (»
Methoden
der EU-Vermittlung).
[zurück zum Text]
|
[Seitenanfang]
|