Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Grundprobleme der EU-Vermittlung (I)  

 Nationalstaats-Fixierung

Ein generelles Problem für Politikwissenschaft wie politische Bildung stellt der rasche Wandel dar, der häufig vereinfachend mit dem Schlagwort Globalisierung bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um Entgrenzungsprozesse, die mit den traditionellen, auf den Nationalstaat zugeschnittenen Kategorien und Methoden der Sozialwissenschaften nicht mehr angemessen beschrieben, geschweige denn erklärt werden können. [1] Den am weitesten fortgeschrittenen "Entgrenzungsfall" bildet die europäische Integration, so dass sich dieses Problem hinsichtlich der EU in besonderer Schärfe stellt. [2]

 Mangelnde Internationalisierung der politischen Bildung

Wenn schon die Bezugswissenschaften aus institutionellen und anderen Gründen mit der Wirklichkeit nicht Schritt halten können, so gilt dies umso mehr für die politische Bildung, deren Internationalisierung bestenfalls schleppend vorankommt [3]: "Politische Bildung ist ... nach wie vor zwar nicht thematisch, aber institutionell und wohl auch kulturell im Wesentlichen an das Bezugssystem des Nationalstaats gebunden, in dessen Kontext sie in ihrer modernen Form entstanden ist und für den sie Integrationsleistungen erbringen sollte." [4] Mit anderen Worten: "Politische Bildung ist ... ein Produkt eben jener Epoche, die sich gegenwärtig ihrem Ende zuneigt." [5]

Probleme der Vermittlung von Globalisierung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene


Probleme der EU-Vermittlung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene
 


Während sich die politische Bildung - ebenso wie ihre primäre Bezugswissenschaft - schon längere Zeit von der (nationalen) Demokratiekunde emanzipiert hat und sich auch mit internationalen Themen befasst, werde kaum gesehen, so Wolfgang Sander, "dass Globalisierung die politische Bildung zunächst mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich selbst zu internationalisieren, den Käfig der nationalen Kulturen, in denen sie entstanden ist, zu öffnen und den Anschluss an den in den Wissenschaften üblichen Grad an Internationalisierung zu finden." [6]

Das Problem der Nationalstaats-Fixierung stellt sich also für die politische Bildung in doppelter Weise: Zum einen bleibt sie selbst (institutionell) dem nationalen Rahmen verhaftet, zum zweiten wird sie von der Politikwissenschaft als Bezugswissenschaft im Stich gelassen, wenn es um die Entwicklung tragfähiger Kategorien und Konzepte für die "postnationale Konstellation" [7] geht.

 Das Problem der "nationalen" Kategorien

Was ist gemeint, wenn davon die Rede ist, dass Kategorien und Methoden nicht mehr greifen, weil sie der (zu Ende gehenden) Epoche und damit auch der Analyseeinheit des Nationalstaats entstammen? Damit ist zum einen und auf einer sehr hohen Abstraktionsebene gemeint, dass "die die bisherige Weltsicht tragende Unterscheidung von national und international aufgelöst" werde. [8] Lässt sich im EU-Europa noch zwischen Innen- und Außenpolitik unterscheiden? Betreibt der deutsche Umweltminister im entsprechenden Ministerrat in Brüssel Außenpolitik?

Offensichtlich - und dieses Beispiel soll genügen, um die Problematik zu verdeutlichen - machen die traditionellen Kategorien "Innenpolitik" und "Außenpolitik" zumindest in diesem Zusammenhang keinen Sinn mehr. Klaus Seitz weist darauf hin, dass "die grenzüberschreitende Vernetzung und Verdichtung sozialer Interaktionen die vertrauten Konturen des politischen Gemeinwesens zusehends verschwimmen (lässt), soweit es als nationalstaatlich verfasst vorgestellt wird. Umgekehrt können auch Ereignisse und Entwicklungen im sozialen Nahraum ohne Rückgriff auf globale Strukturen und Einflüsse nicht mehr hinreichend verständlich gemacht werden." [9]

Ulrich Beck fasst die Problematik zusammen, die hier als eines von sechs Grundproblemen der EU-Vermittlung unter der Überschrift "Nationalstaats-Fixierung" eingeführt wurde:

 "Der Nationalstaatsglaube beruht, meist unreflektiert, auf den folgenden Prämissen: Gesellschaft wird mit Nationalstaatsgesellschaft gleichgesetzt; Staaten und ihre Regierungen gelten als Eckpunkte der politikwissenschaftlichen Analyse. Man geht davon aus, dass die Menschheit in eine endliche Zahl von Nationen zerfällt, die sich im Inneren als Nationalstaaten organisieren, nach außen im System internationaler Beziehungen gegeneinander abgrenzen. Mehr noch: Die Abgrenzung nach außen sowie die Konkurrenz zwischen Nationalstaaten untereinander stellt das fundamentale Organisationsprinzip des Politischen dar. Der Nationalstaatsglaube wird insbesondere von reflektierten Politikwissenschaftlern damit begründet, dass Demokratie nur im Nationalstaat verwirklicht worden, mehr noch: verwirklichbar sei: Ohne Nationalstaat keine Demokratie, weshalb die 'postnationale Konstellation' ... die Demokratie gefährdet." [10]

Das verweist auf ein sehr aufschlussreiches Beispiel, nämlich die Diskussion um das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU, das an anderer Stelle im Rahmen dieses Abschnitts vertieft wird, nämlich im Zuge der Beschäftigung mit der fehlenden Referenzebene als Problem der EU-Vermittlung [» zu diesem Abschnitt]. [11]

Hier wird deutlich, dass die in diesem Abschnitt aus analytischen Gründen unterschiedenen sechs Kategorien von Grundproblemen der EU-Vermittlung in der Praxis aufs engste verknüpft sind und sich wechselseitig beeinflussen. Dass eine Referenzebene bei der Behandlung der EU beispielsweise im schulischen Politikunterricht fehlt, hängt natürlich mit dem hier behandelten Problem zusammen, dass es zwar gut erprobte "nationale" Kategorien, aber eben (noch) keine etablierten "trans- oder postnationalen" Kategorien in der Politikwissenschaft gibt.

 Folgeprobleme für die EU-Vermittlung

Die Schwierigkeiten für den politischen Bildner liegen auf der Hand. Wie soll man einen Sachverhalt behandeln, wenn einem die Begriffe fehlen? Entweder er entscheidet sich hinsichtlich der zu verwendenden Begriffe für einen Autor, verwendet dessen Begriffe, übernimmt damit zwangsläufig auch dessen Perspektive, oder er versucht gemäß den Prinzipien der Wissenschaftsorientierung und Kontroversität die gegenwärtig chaotische Situation in der primären Bezugswissenschaft im Unterricht oder Seminar zu berücksichtigen, was einen Lernerfolg äußerst unwahrscheinlich werden lässt.

Der Weg zurück ist aber auch keine gangbare Alternative, denn dass die vom Nationalstaat als Bezugssystem bekannten Kategorien im EU-Europa nicht mehr greifen, kann als vergleichsweise gesicherte Erkenntnis gelten.

Außerdem ist natürlich in Rechnung zu stellen, dass Stofffülle und Komplexität beträchtlich zunehmen, wenn man das vertraute Terrain der Nationalstaats-Fixierung verlässt, die Forderung nach der Internationalisierung politischer Bildung ernst nimmt und beispielsweise Umweltpolitik mit europäischer Perspektive zu behandeln versucht.

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Anmerkungen:

[1]

Vgl. dazu neben vielen anderen Veröffentlichungen:
Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt am Main 2002.
ULRICH BECK/EDGAR GRANDE, Das kosmopolitische Europa, Frankfurt/Main 2004.
Hier schreiben die Autoren im Vorwort: "Die Euphorie (oder auch die Skepsis) um das neue, größere Europa können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa noch immer unverstanden, unbegriffen ist. Diese historisch einmalige und einzigartige Form der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Gemeinschaftsbildung entzieht sich allen gängigen Kategorien und Konzepten. Am Beispiel Europas zeigt sich besonders deutlich, wie historisch wirklichkeitsfremd und stumpf unsere politischen Begriffe und das theoretische Instrumentarium der Sozialwissenschaften geworden sind - sind beide doch noch immer in dem Denkgebäude eines methodologischen Nationalismus gefangen" (S. 7).

Nach wie vor grundlegend zu den Folgen von Europäisierung und Globalisierung auf Regieren und Demokratie:
Beate Kohler-Koch (Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/1998, Opladen 1998. Im einleitenden Aufsatz schreibt die Herausgeberin: "Wenn nun Grenzüberschreitung zur Alltäglichkeit wird, die Grenzen der wirtschaftlichen, kulturellen und auch politischen Handlungsräume über die sich national definierenden Gesellschaften hinaus expandieren und unterschiedliche Prozesse von Inklusion und Exklusion die gedachte und normativ beanspruchte Einheitlichkeit der demokratischen Gesellschaft auflösen und der politische Raum abhanden kommt, kann die Zukunft der Demokratie nicht mehr mit traditionellen Kategorien erfasst werden" (S. 11-12).
Das paradoxe Verhältnis von Globalisierung und europäischer Integration - den zwei Großthemen, anhand derer in dieser Arbeit Vermittlungsprobleme und Lösungsansätze für die politische Bildung diskutiert werden - wird an anderer Stelle näher beleuchtet. Dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise
zum Abschnitt "EU und Globalisierung").
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[2]

In diesem Zusammenhang muss auf die Ambivalenzen der Diskussion um Entgrenzung, Globalisierung und Regionalisierung hingewiesen werden: Einerseits - aus dem Blickwinkel der nationalen Ebene - handelt es sich beim EU-Mehrebenensystem um ein Beispiel für besonders weit fortgeschrittene Entgrenzung, andererseits gilt aber auch: "Die weitgehende Kongruenz von Nationalstaat und Nationalökonomie sind Geschichte. Grenzen werden supranational in regionalen Blöcken gesetzt. Dabei ist die Europäische Union besonders weit fortgeschritten" (Elmar Altvater, Ort und Zeit des Politischen unter den Bedingungen ökonomischer Globalisierung, in: Dirk Messner (Hg.), Die Zukunft des Staates und der Politik. Möglichkeiten und Grenzen politischer Steuerung in der Weltgesellschaft, Bonn 1998, S. 92).
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[3]

Vgl. dazu ausführlich: Siegfried Frech u.a. (Hg.), Internationale Beziehungen in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2000.
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[4]

Wolfgang Sander, Politische Bildung nach der Jahrtausendwende. Perspektiven und Modernisierungsaufgaben; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45/2002, S. 38, Online-Version.
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[5]

Wolfgang Sander, Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 11.
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[6]

Wolfgang Sander, Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 23.
Die hier nur kurz angesprochenen Aspekte der bisherigen politikdidaktischen Auseinandersetzung mit den Themen EU und Globalisierung werden an anderer Stelle vertieft:
» EU und Politikdidaktik
» Globalisierung und Politikdidaktik
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[7]

Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt/Main 1998.
Bezogen auf die EU-Forschung führen Jachtenfuchs und Kohler-Koch hierzu aus: "Das eigentliche Defizit nicht nur der politikwissenschaftlichen Integrationsforschung besteht darin, dass sie über politische Ordnung ... jenseits der vertrauten Ordnungssysteme 'Staat' und 'Staatenwelt' nicht nachzudenken vermag, weil die Denkmuster in den Sozialwissenschaften wie in der Rechtswissenschaft in diesen in der Neuzeit geprägten Ordnungsstrukturen der Moderne gefangen sind und ihnen deshalb schon die Begrifflichkeiten fehlen, ein Regieren jenseits der Staatlichkeit überhaupt zu konzeptualisieren" (Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem; in: dies. (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 30).
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[8]

Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt/Main 2002, S. 9.
Bei dem zitierten Satz handelt es sich um eine Kernthese des Buches (wie auch früherer Werke des Autors), die an vielen Stellen in ihren Voraussetzungen und Folgen beleuchtet und mit Leben gefüllt wird. Beck gibt aber auch zu bedenken: "So richtig es ist, die Nationalstaatsfixierung abzustreifen, weil der Staat nicht mehr der Akteur des internationalen Systems, sondern ein Akteur unter anderen ist, so falsch wäre es, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit der Kritik am nationalstaatsfixierten Blick die mögliche Handlungsfähigkeit und Selbsttransformation des Staates im globalen Zeitalter aus dem Blick zu verlieren" (S. 31).
Besonders interessant für die in diesem Abschnitt behandelten Fragen ist Becks Diskussion der Probleme des "methodologischen Nationalismus" in den Sozialwissenschaften auf den Seiten 50-54 und 84-94.
Stellvertretend für viele weitere Beiträge sei auf die Ausgabe 1/2005 der Zeitschrift "Internationale Politik" verwiesen, die den programmatischen Titel trägt: "Alles ist Außenpolitik". Im Editorial schreibt die Chefredakteurin Sabine Rosenbladt: "In Zeiten der Globalisierung lassen sich 'Innen-' und 'Außenpolitik' kaum noch voneinander trennen. Das 'Ausland' ist nicht mehr 'draußen' - es ist hier, es betrifft täglich deutsche Arbeitsplätze, deutsche Bildung, deutsche Forschung, deutsche Wettbewerbsfähigkeit, deutsche Kultur" (S. 1).
Das analoge Problem für die Geschichtswissenschaft beschreibt Hanna Schissler: "Weltgeschichte markiert jedoch nicht als Ansammlung transnationaler Geschichtserzählungen einfach nur eine neue Ebene oberhalb der nationalen Geschichtsschreibung. Sie ist ein neuartiges, oder, wie die Soziologen dies nennen, 'emergentes' Phänomen: 'Die Spezifik emergenter Phänomene liegt darin, dass sie mit dem bisherigen theoretischen Wissen nicht hinreichend zu erklären sind'" (Weltgeschichte als Geschichte der sich globalisierenden Welt; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1/2005, S. 38, Online-Version; das Zitat im Zitat stammt von Theresa Wobbe, Weltgesellschaft, Bielefeld 2000, S. 75).
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[9]

Klaus Seitz, Lernen für ein globales Zeitalter. Zur Neuorientierung der politischen Bildung in der postnationalen Konstellation; in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Politische Bildung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 46-47.
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[10]

Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt/Main 2002, S. 50.
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[11]

Einen wichtigen Aspekt des Demokratiedefizits der EU und der Problematik der fehlenden Kategorien spricht das folgende Zitat an: "Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht die Position vertreten, dass demokratische Prozesse letztlich nur in einer Gesellschaft stattfinden können, in der um unterschiedliche politische Positionen im Parteienwettbewerb und im medienvermittelten öffentlichen Diskurs gestritten wird. Europäische Parteien und einen europäischen politischen Diskurs gibt es jedoch nicht. Dieses Urteil zeigt in exemplarischer Weise, wie schwer es fällt, eine legitime politische Ordnung in anderen Kategorien als den vom Modell des hoch integrierten Nationalstaates angebotenen zu denken" (Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem; in: dies. (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 34).
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