Innen- und Außenpolitik bilden in diesem System keine brauchbaren
Kategorien mehr (» Nationalstaats-Fixierung), der Hinweis auf isolierte "nationale Interessen"
mutet eigentümlich an, auch wenn häufig genau davon die Rede ist. In
einem derart verflochtenen System wie dem EU-Mehrebenensystem können
Mitgliedstaaten keine nationalen Interessen im herkömmlichen Sinn
formulieren, ohne die europäischen Verflechtungen von Anfang an im
Blick zu haben.
Funktionale Differenzierung
Die drei Systemebenen und die beteiligten Institutionen - ein zweiter
grundlegender Aspekt - wirken in verschiedenen Politikfeldern völlig
unterschiedlich zusammen. Das EU-System zeichnet sich durch eine
ausgeprägte funktionale Differenzierung aus, die Verständnis wie
Vermittlung außerordentlich erschwert.
Es handelt sich um ein
neuartiges System, für das eine tragfähige Referenzebene zur
Einordnung und zum Vergleich fehlt. Das bildet einen weiteren wichtigen Punkt
im Rahmen der in diesem Abschnitt vorzunehmenden Auflistung grundlegender
Probleme, die für die besonderen Schwierigkeiten bei der
EU-Vermittlung verantwortlich zeichnen (»
fehlende Referenzebene).
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Etwas vereinfachend werden seit der
Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht drei
Säulen der EU unterschieden, die das Schaubild zeigt.
Bei der ersten
Säule handelt es sich um die supranationale EG-Säule, die beiden
anderen bleiben der für internationale Organisationen üblichen
intergouvernementalen Entscheidungslogik verhaftet. Die gängige "Tempeldarstellung"
dieser Säulenstruktur darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich
bei der ersten Säule um die mit Abstand wichtigste handelt. |
Zwischenzeitlich sind einige Verschiebungen innerhalb dieser
Säulenstruktur zu verzeichnen. So wurden etwa durch den Amsterdamer
Vertrag wichtige Bereiche aus der dritten Säule "vergemeinschaftet",
also in die Entscheidungslogik der ersten Säule überführt.
[4]
Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass
nicht nur mehrere Entscheidungsebenen zu berücksichtigen sind, sondern
auch verschiedene Bereiche innerhalb des EU-Systems, die nach völlig
unterschiedlichen Spielregeln funktionieren. Selbst innerhalb eines
Bereichs müssen zusätzlich noch mehrere Entscheidungsverfahren
unterschieden werden (Zustimmungsverfahren, Konsultationsverfahren,
Mitentscheidungsverfahren etc.).
Der Einschätzung, der
"Gegenstand Europäische Union ist aber auch nicht
abstrakter und komplexer als andere" [5],
muss deshalb m.E. widersprochen werden. Es gibt viele, aus
unterschiedlichen Gründen schwierige Themen in der Politikwissenschaft,
aber ein komplexeres Entscheidungssystem als das der EU wird wohl
nicht so leicht zu finden sein.
Folgeprobleme für die EU-Vermittlung
Dem Verständnis eines derart komplexen Systems sind kognitive und
praktische Grenzen gesetzt (z.B. Anzahl der Unterrichtsstunden zur EU
in den Lehrplänen). Insbesondere dem politischen Bildner, der sich nur
selten ausschließlich dem Gegenstand EU widmen kann, wird einiges
abverlangt. Hat er sich mühsam auf einen hinreichenden Kenntnisstand
zum EU-System gebracht, muss er in der Zeitung schon von der nächsten
großen Vertragsrevision lesen.
Wie angesichts der Besonderheiten und der funktionalen Differenzierung
des EU-Systems zentralen didaktischen Prinzipien wie Schüler- oder
Interessenorientierung Genüge getan werden soll, zählt zu den
ungelösten Problemen der EU-Vermittlung. Reicht doch die Zeit in der
Regel gerade aus, um das Institutionensystem mehr schlecht als recht
einzuführen.
Außerdem stellen die auf dieser Seite skizzierten Besonderheiten des
EU-Systems die politische Bildung vor sehr grundsätzliche Probleme: "Politikwissenschaftliche
Überlegungen zum Mehrebenensystem lassen es als obsolet
erscheinen, Europa als quasi außenpolitischen Gegenstand zu betrachten.
Die Verwobenheit lässt Europa zunehmend einen innenpolitischen
Gegenstand aller Mitgliedsländer werden. Es ist deshalb nicht mehr
gerechtfertigt, die Institutionen und Politikfelder der Bundesrepublik
und der Europäischen Union immer nur nebeneinander zu behandeln."
[6]
Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Man müsste politikfeldspezifisch
vorgehen, um dann der jeweiligen Mischung aus regionalen, nationalen
und supranationalen Kompetenzen in ihrem Zusammenspiel auf die Spur zu
kommen (z.B. entlang des Policy-Zyklus-Modells). Aber wer soll das
leisten? Und wer integriert die fragmentierten Kenntnisse aus
verschiedenen Politikfeldern anschließend zu einer Gesamtsicht auf das
EU-System? [7]
Selbst ein führender Vertreter der deutschen Europaforschung,
Wolfgang Wessels, lässt Skepsis anklingen, wenn er bilanziert: "Die
Beschreibung, Analyse und Bewertung der Europäischen Union wird
nicht nur wichtiger, sie wird auch immer schwieriger. Der wachsenden
Bedeutung des EU-Systems steht gleichzeitig eine Zunahme an
Komplexität gegenüber, die diese Aufgabe zu einer beträchtlichen
Herausforderung für alle Betroffenen und Beteiligten werden lässt."
[8]
[Seitenanfang]
Anmerkungen:
[1] |
"Es
besteht kein Zweifel: Der Gegenstand Europa ist im
Politikunterricht schwer zu vermitteln. Ein Grund dafür liegt in
der verwirrenden Terminologie." So beginnt der Aufsatz von Joachim Detjen,
"Europäische Unübersichtlichkeiten". Wie soll die politische
Bildung mit der Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen
Union umgehen?; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 126-143.
Neben der schwierigen Terminologie macht Detjen v.a. die "organisatorisch-institutionelle
Unübersichtlichkeit" (S. 126), die komplizierten Verfahrensweisen
(S. 127 und 132f.), die ständige Veränderung (S. 127 und 130f.),
den "politisch und rechtlich unklaren Status" (S. 128), den "Umfang
der Vertragstexte" (S. 131), die "flexible Integration und
schließlich die Folgen der Harmonisierungsverweigerung durch
einzelne Mitgliedstaaten" (S. 131) dafür verantwortlich, dass die
EU einen besonders schwer zu vermittelnden Gegenstand für den
Politikunterricht darstellt.
Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt spricht im Hinblick auf die
Verträge von einem "Musterbeispiel bürokratischen Wirrwarrs"
(Die Zeit vom 09.05.2005, S. 1).
[zurück zum Text]
|
[2] |
Beate
Kohler-Koch, Einleitung. Effizienz und Demokratie: Probleme
des Regierens in entgrenzten Räumen; in: dies. (Hg.), Regieren in
entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/98, Opladen 1998, S. 19.
[zurück zum Text]
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[3] |
Nach
wie vor grundlegend zur Diskussion des EU-Mehrebenensystems:
Markus Jachtenfuchs/Beate
Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem; in:
dies. (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 15-44.
Nur angedeutet werden kann an dieser Stelle ein
zusätzliches Problem: Die Verwendung des Begriffs
"Mehrebenensystem" soll nicht den Eindruck erwecken, als handle es
sich dabei um einen feststehenden, in seinem Gehalt allseits
akzeptierten Begriff. Das Gegenteil ist der Fall, was die
dargestellte Komplexität natürlich noch erhöht: "Die zunehmend
inflationäre Verwendung der Begriffe des 'Mehrebenensystems' und
der 'Multi-Level Governance' kann freilich nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese Begriffe derzeit wenig mehr sind als
eine deskriptive Metapher" (EDGAR GRANDE, Multi-Level Governance:
Institutionelle Besonderheiten und Funktionsbedingungen des
europäischen Mehrebenensystems; in: ders./Markus Jachtenfuchs
(Hg.), Wie problemlösungsfähig ist die EU? Regieren im
europäischen Mehrebenensystem, Baden-Baden 2000, S. 12). In die
gleiche Richtung weist die Kritik von Arthur Benz: "Der Begriff
des Mehrebenensystems ist bislang wenig präzise und weist
bestenfalls eine Richtung für die Analyse. Klare Aussagen über die
Funktionsweise und Eigendynamik dieser nicht-hierarchischen
Strukturen findet man kaum" (ARTHUR BENZ, Politikverflechtung ohne
Politikverflechtungsfalle. Koordination und Strukturdynamik im
europäischen Mehrebenensystem; in: Politische Vierteljahresschrift
39, 1998, S. 359).
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[4] |
Die
Veränderungen durch die Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza
werden im Überblick dargestellt und bewertet in:
Werner Weidenfeld
(Hg.), Amsterdam in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh
1998.
Werner Weidenfeld
(Hg.), Nizza in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh
2001.
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[5] |
Georg
Weißeno,
Einleitung; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 12.
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[6] |
Georg
Weißeno,
Konturen einer europazentrierten Politikdidaktik -
Europäische Zusammenhänge verstehen lernen; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 112.
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[7] |
Genau
dieser Problematik widmet sich der policy-analytisch orientierte
Teil der Integrationsforschung seit den 1990er Jahren, als die
Dominanz der Disziplin Internationale Beziehungen auf dem Gebiet
der Integrationsforschung aufgebrochen wurde. Zu den
überzeugendsten Versuchen auf diesem Gebiet zählt folgende
Monographie: Wolfgang
Schumann, Neue Wege in der Integrationstheorie. Ein policy-analytisches
Modell zur Interpretation des politischen Systems der EU, Opladen
1996.
Grundlegend zum Erfordernis der Integration der
politikwissenschaftlichen Teildisziplinen angesichts "entgrenzter"
Phänomene: Edgar
Grande/Thomas Risse, Bridging the Gap. Konzeptionelle
Anforderungen an die politikwissenschaftliche Analyse von
Globalisierungsprozessen; in: Zeitschrift für Internationale
Beziehungen 2/2000, S. 235-266.
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[8] |
WOLFGANG WESSELS, Das politische
System der EU; in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, BpB
Bonn 2002, S. 329.
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