Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Grundprobleme der EU-Vermittlung (V)  

 Komplexität

Europäischer Rat, Europarat, Rat der Europäischen Union, EG-Vertrag, EU-Vertrag - die Liste der "verwirrenden Terminologie" [1] ließe sich beliebig fortsetzen. Vielfach wurde beklagt, dass das EU-System für den Laien sowieso nicht, aber auch für den Experten nur noch mit großer Mühe zu durchschauen sei.

Erschwerend hinzu kommen die auf gesonderten Seiten angesprochene dynamische Veränderung des Systems (» Dynamik) sowie die relative Vernachlässigung in den Medien (» Distanz). Die EU ist also nicht nur kompliziert, sondern "als politischer Raum für die Bürger weitgehend unsichtbar und unzugänglich." [2]

 Mehrebenensystem

Die Komplexität des dynamischen Mehrebenensystems der EU kann (und braucht) hier nur angedeutet zu werden. [3] Am Entscheidungsprozess sind mit der supranationalen, der nationalen und der subnationalen mindestens drei Ebenen beteiligt, die sich - und das ist der entscheidende Punkt - wechselseitig durchdringen und als Gesamtsystem in den Blick genommen werden müssen.

Probleme der Vermittlung von Globalisierung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene


Probleme der EU-Vermittlung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene
 




Innen- und Außenpolitik bilden in diesem System keine brauchbaren Kategorien mehr (» Nationalstaats-Fixierung), der Hinweis auf isolierte "nationale Interessen" mutet eigentümlich an, auch wenn häufig genau davon die Rede ist. In einem derart verflochtenen System wie dem EU-Mehrebenensystem können Mitgliedstaaten keine nationalen Interessen im herkömmlichen Sinn formulieren, ohne die europäischen Verflechtungen von Anfang an im Blick zu haben.

 Funktionale Differenzierung

Die drei Systemebenen und die beteiligten Institutionen - ein zweiter grundlegender Aspekt - wirken in verschiedenen Politikfeldern völlig unterschiedlich zusammen. Das EU-System zeichnet sich durch eine ausgeprägte funktionale Differenzierung aus, die Verständnis wie Vermittlung außerordentlich erschwert.

Es handelt sich um ein neuartiges System, für das eine tragfähige Referenzebene zur Einordnung und zum Vergleich fehlt. Das bildet einen weiteren wichtigen Punkt im Rahmen der in diesem Abschnitt vorzunehmenden Auflistung grundlegender Probleme, die für die besonderen Schwierigkeiten bei der EU-Vermittlung verantwortlich zeichnen (» fehlende Referenzebene).
 
Etwas vereinfachend werden seit der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht drei Säulen der EU unterschieden, die das Schaubild zeigt.

Bei der ersten Säule handelt es sich um die supranationale EG-Säule, die beiden anderen bleiben der für internationale Organisationen üblichen intergouvernementalen Entscheidungslogik verhaftet. Die gängige "Tempeldarstellung" dieser Säulenstruktur darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der ersten Säule um die mit Abstand wichtigste handelt.

Zwischenzeitlich sind einige Verschiebungen innerhalb dieser Säulenstruktur zu verzeichnen. So wurden etwa durch den Amsterdamer Vertrag wichtige Bereiche aus der dritten Säule "vergemeinschaftet", also in die Entscheidungslogik der ersten Säule überführt. [4]

Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass nicht nur mehrere Entscheidungsebenen zu berücksichtigen sind, sondern auch verschiedene Bereiche innerhalb des EU-Systems, die nach völlig unterschiedlichen Spielregeln funktionieren. Selbst innerhalb eines Bereichs müssen zusätzlich noch mehrere Entscheidungsverfahren unterschieden werden (Zustimmungsverfahren, Konsultationsverfahren, Mitentscheidungsverfahren etc.).

Der Einschätzung, der "Gegenstand Europäische Union ist aber auch nicht abstrakter und komplexer als andere" [5], muss deshalb m.E. widersprochen werden. Es gibt viele, aus unterschiedlichen Gründen schwierige Themen in der Politikwissenschaft, aber ein komplexeres Entscheidungssystem als das der EU wird wohl nicht so leicht zu finden sein.

 Folgeprobleme für die EU-Vermittlung

Dem Verständnis eines derart komplexen Systems sind kognitive und praktische Grenzen gesetzt (z.B. Anzahl der Unterrichtsstunden zur EU in den Lehrplänen). Insbesondere dem politischen Bildner, der sich nur selten ausschließlich dem Gegenstand EU widmen kann, wird einiges abverlangt. Hat er sich mühsam auf einen hinreichenden Kenntnisstand zum EU-System gebracht, muss er in der Zeitung schon von der nächsten großen Vertragsrevision lesen.

Wie angesichts der Besonderheiten und der funktionalen Differenzierung des EU-Systems zentralen didaktischen Prinzipien wie Schüler- oder Interessenorientierung Genüge getan werden soll, zählt zu den ungelösten Problemen der EU-Vermittlung. Reicht doch die Zeit in der Regel gerade aus, um das Institutionensystem mehr schlecht als recht einzuführen.

Außerdem stellen die auf dieser Seite skizzierten Besonderheiten des EU-Systems die politische Bildung vor sehr grundsätzliche Probleme: "Politikwissenschaftliche Überlegungen zum Mehrebenensystem lassen es als obsolet erscheinen, Europa als quasi außenpolitischen Gegenstand zu betrachten. Die Verwobenheit lässt Europa zunehmend einen innenpolitischen Gegenstand aller Mitgliedsländer werden. Es ist deshalb nicht mehr gerechtfertigt, die Institutionen und Politikfelder der Bundesrepublik und der Europäischen Union immer nur nebeneinander zu behandeln." [6]

Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Man müsste politikfeldspezifisch vorgehen, um dann der jeweiligen Mischung aus regionalen, nationalen und supranationalen Kompetenzen in ihrem Zusammenspiel auf die Spur zu kommen (z.B. entlang des Policy-Zyklus-Modells). Aber wer soll das leisten? Und wer integriert die fragmentierten Kenntnisse aus verschiedenen Politikfeldern anschließend zu einer Gesamtsicht auf das EU-System? [7]

Selbst ein führender Vertreter der deutschen Europaforschung, Wolfgang Wessels, lässt Skepsis anklingen, wenn er bilanziert: "Die Beschreibung, Analyse und Bewertung der Europäischen Union wird nicht nur wichtiger, sie wird auch immer schwieriger. Der wachsenden Bedeutung des EU-Systems steht gleichzeitig eine Zunahme an Komplexität gegenüber, die diese Aufgabe zu einer beträchtlichen Herausforderung für alle Betroffenen und Beteiligten werden lässt." [8]

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Anmerkungen:
 

[1]

"Es besteht kein Zweifel: Der Gegenstand Europa ist im Politikunterricht schwer zu vermitteln. Ein Grund dafür liegt in der verwirrenden Terminologie." So beginnt der Aufsatz von Joachim Detjen, "Europäische Unübersichtlichkeiten". Wie soll die politische Bildung mit der Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen Union umgehen?; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 126-143.
Neben der schwierigen Terminologie macht Detjen v.a. die "organisatorisch-institutionelle Unübersichtlichkeit" (S. 126), die komplizierten Verfahrensweisen (S. 127 und 132f.), die ständige Veränderung (S. 127 und 130f.), den "politisch und rechtlich unklaren Status" (S. 128), den "Umfang der Vertragstexte" (S. 131), die "flexible Integration und schließlich die Folgen der Harmonisierungsverweigerung durch einzelne Mitgliedstaaten" (S. 131) dafür verantwortlich, dass die EU einen besonders schwer zu vermittelnden Gegenstand für den Politikunterricht darstellt.
Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt spricht im Hinblick auf die Verträge von einem "Musterbeispiel bürokratischen Wirrwarrs" (Die Zeit vom 09.05.2005, S. 1).
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[2]

Beate Kohler-Koch, Einleitung. Effizienz und Demokratie: Probleme des Regierens in entgrenzten Räumen; in: dies. (Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/98, Opladen 1998, S. 19.
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[3]

Nach wie vor grundlegend zur Diskussion des EU-Mehrebenensystems: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem; in: dies. (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 15-44.
Nur angedeutet werden kann an dieser Stelle ein zusätzliches Problem: Die Verwendung des Begriffs "Mehrebenensystem" soll nicht den Eindruck erwecken, als handle es sich dabei um einen feststehenden, in seinem Gehalt allseits akzeptierten Begriff. Das Gegenteil ist der Fall, was die dargestellte Komplexität natürlich noch erhöht: "Die zunehmend inflationäre Verwendung der Begriffe des 'Mehrebenensystems' und der 'Multi-Level Governance' kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Begriffe derzeit wenig mehr sind als eine deskriptive Metapher" (EDGAR GRANDE, Multi-Level Governance: Institutionelle Besonderheiten und Funktionsbedingungen des europäischen Mehrebenensystems; in: ders./Markus Jachtenfuchs (Hg.), Wie problemlösungsfähig ist die EU? Regieren im europäischen Mehrebenensystem, Baden-Baden 2000, S. 12). In die gleiche Richtung weist die Kritik von Arthur Benz: "Der Begriff des Mehrebenensystems ist bislang wenig präzise und weist bestenfalls eine Richtung für die Analyse. Klare Aussagen über die Funktionsweise und Eigendynamik dieser nicht-hierarchischen Strukturen findet man kaum" (ARTHUR BENZ, Politikverflechtung ohne Politikverflechtungsfalle. Koordination und Strukturdynamik im europäischen Mehrebenensystem; in: Politische Vierteljahresschrift 39, 1998, S. 359).
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[4]

Die Veränderungen durch die Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza werden im Überblick dargestellt und bewertet in:
Werner Weidenfeld (Hg.), Amsterdam in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh 1998.
Werner Weidenfeld (Hg.), Nizza in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh 2001.
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[5]

Georg Weißeno, Einleitung; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 12.
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[6]

Georg Weißeno, Konturen einer europazentrierten Politikdidaktik - Europäische Zusammenhänge verstehen lernen; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 112.
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[7]

Genau dieser Problematik widmet sich der policy-analytisch orientierte Teil der Integrationsforschung seit den 1990er Jahren, als die Dominanz der Disziplin Internationale Beziehungen auf dem Gebiet der Integrationsforschung aufgebrochen wurde. Zu den überzeugendsten Versuchen auf diesem Gebiet zählt folgende Monographie: Wolfgang Schumann, Neue Wege in der Integrationstheorie. Ein policy-analytisches Modell zur Interpretation des politischen Systems der EU, Opladen 1996.
Grundlegend zum Erfordernis der Integration der politikwissenschaftlichen Teildisziplinen angesichts "entgrenzter" Phänomene: Edgar Grande/Thomas Risse, Bridging the Gap. Konzeptionelle Anforderungen an die politikwissenschaftliche Analyse von Globalisierungsprozessen; in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2000, S. 235-266.
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[8]

WOLFGANG WESSELS, Das politische System der EU; in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, BpB Bonn 2002, S. 329.
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