Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Grundprobleme der EU-Vermittlung (IV)  

 Legenden

Vor rund 2500 Jahren - so wird aus der Wiege der europäischen Kultur überliefert -, stellte Herodot fest: "Von Europa weiß offenbar niemand Genaues." Auch wenn der Vater der europäischen Geschichtsschreibung dabei sicher nicht in erster Linie an die verbreitete Unkenntnis über die EU gedacht haben mag, eignet sich seine Aussage doch, um sie dem Abschnitt über Legenden und Vorurteile als einem Grundproblem der EU-Vermittlung voranzustellen. Welches Vorwissen kann man bei Schülern, Studentinnen oder Kursteilnehmern in der Erwachsenenbildung zu Beginn einer Lehreinheit zur EU erwarten?

 Verbreitete Unkenntnis

Praxisnäher formuliert lautet die Frage: Was denkt der interessierte Laie, der bei der Informationsbeschaffung auf Fernsehen, Zeitungen und Nachrichtenmagazine angewiesen ist? Sein EU-Bild ließe sich in überspitzter Form etwa so zusammenfassen: Die EU besteht aus Millionen von hochbezahlten Müßiggängern in Brüssel, die sich um den Krümmungsgrad von Bananen kümmern, in Milchseen schwimmen, Butterberge erklimmen, von niemandem kontrolliert werden und in dunklen, verworrenen Gassen die Demokratie zu Grabe tragen.

Dass Wissensdefizite nicht nur in den Massenmedien und (folglich) beim Publikum zu verzeichnen sind, sondern auch vor der Wissenschaft nicht haltmachen, wurde an anderer Stelle im Rahmen dieser Arbeit exemplarisch aufgezeigt (» zum entsprechenden Abschnitt).

Probleme der Vermittlung von Globalisierung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene


Probleme der EU-Vermittlung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene
 


Dass im EU-System nicht alles zum Besten bestellt ist, dass insbesondere schwerwiegende Demokratie-, bei gleichzeitigen Effizienzproblemen vorhanden sind, soll nicht verschwiegen werden, steht aber hier nicht zur Debatte (» zur Diskussion des Demokratie- und Legitimationsdefizits). An dieser Stelle soll es um die Frage gehen, woher das schlechte Image der EU rührt.

 "Nationale" Instrumentalisierung der EU

"Wenn die Sonne lacht, war's der Mitgliedsstaat, bei Regen und Schnee war's die EG" - das Maß an Legenden und Vorurteilen lässt sich unter anderem mit dem Hinweis darauf erklären, dass die EU häufig als Sündenbock für unliebsame Entscheidungen herhalten muss.

Klaus Hänsch, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, fand drastische Worte für diesen Sachverhalt, als er ausführte, "dass es schon ein Riesenerfolg wäre, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten endlich aufhören würden, die Risiken der Politik auf die Union abzuschieben und Erfolge zu nationalisieren. Wer in der Union nichts weiter sehe als eine Deponie für nationalen Politikmüll, brauche sich nicht zu wundern, dass sie den Menschen stinke." [1]

Anzumerken gilt es hier, dass dieses Phänomen in der Europaforschung nicht nur als Sündenbock-Argument aus der Perspektive nationaler Politik (und Machterhaltung) Beachtung findet. Insbesondere Klaus Dieter Wolf hat mit Blick auf die Instrumentalisierung von "Regieren jenseits des Nationalstaates" [2] herausgearbeitet, "dass dieser Vorgang nicht als Paradox, Dilemma oder Betriebsunfall verstanden werden muss, sondern sich als Ausdruck einer gezielten Politik der Neuen Staatsräson deuten lässt."

Er weist darauf hin, dass sich Regierungen gezielt international binden, nicht nur, um internationale Probleme effektiver bearbeiten zu können, sondern auch, um "Autonomiespielräume gegenüber zivilgesellschaftlichen Mitwirkungsansprüchen zu behaupten oder wiederzuerlangen. Mit dem von ihnen zur Bändigung der Marktmacht geschaffenen Instrument befreien sich die Regierungen auch von der Umklammerung ihrer gesellschaftlichen Auftraggeber. Es kommt zu einer Entdemokratisierung durch intergouvernementale Selbstbindung." [3]

Ob man dieser Argumentation folgen will oder nicht, festzuhalten bleibt, dass die Instrumentalisierung der EU zur "externen" Rechtfertigung umstrittener Entscheidungen - wie die Vorgänge vor, während und nach der Errichtung der Europäischen Währungsunion exemplarisch veranschaulichen - einem positiven Europabild in der Öffentlichkeit nicht förderlich sind, dafür aber der Legendenbildung Vorschub leisten.

Dieser Faktor alleine reicht jedoch nicht aus, um Wissensdefizite, (daraus resultierende) Legenden und Vorurteile plausibel zu machen. Hier spielen die beiden entscheidenden Besonderheiten des EU-Systems - das Problem der Komplexität und das Problem der fehlenden Referenzebene für die Einordnung des EU-Systems als eines Systems sui generis - die zentrale Rolle. Diesen beiden Faktoren sind eigene Abschnitte im Rahmen dieses Durchgangs durch wichtige Grundprobleme der EU-Vermittlung gewidmet:
» Komplexität als Grundproblem der EU-Vermittlung
» fehlende Referenzebene als Grundproblem der EU-Vermittlung


 Folgeprobleme für die EU-Vermittlung

Dass wenig Vorwissen zum Gegenstand EU vorausgesetzt werden muss, macht die Aufgabe der politischen Bildnerinnen nicht eben einfacher. Dass dieses Vorwissen von zählebigen Legenden und Vorurteilen durchsetzt ist, kommt erschwerend hinzu. Außerdem sind natürlich auch die Lehrenden nicht gefeit vor der "Infektion" durch den "Sündenbock-Virus". Ein Anknüpfen an vorhandenes Wissen ist natürlich trotzdem möglich, zumal die Berichterstattung in den Medien in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, stellt aber hohe Anforderungen an den Lehrenden.

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Anmerkungen:
 

[1]

Zitiert nach Hartmut Hausmann, "Keine Deponie für nationalen Politikmüll"; in: Das Parlament 39/1996.
Ansätze einer systematisch wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Thematik bietet folgender Aufsatz: COLIN HAY/BEN ROSAMOND, Globalization, European integration and the discursive construction of economic imperatives; in: Journal of European Public Policy 9, 2/2002, S. 147-167.
Im Zuge der EU-Krise nach den "gescheiterten" Referenden zur Verfassung in Frankreich und den Niederlanden fand das "Sündenbock-Argument" immense Verbreitung. Zwei Beispiele von vielen mögen zur Veranschaulichung genügen. So führt ALFRED GROSSER in einem Interview (Stuttgarter Zeitung vom 4.6.05) aus: "Es ist die Schuld der Medien, der Politiker, der Parteien, dass nicht über die Zukunft Europas geredet wird. Oder wenn von den Politikern in den einzelnen Staaten über Brüssel geredet wird, dann muss die EU als Sündenbock für alle Arten von Problemen herhalten. Frei nach dem Motto: das Gute kommt von uns, das Schlechte aus Brüssel."
Der Fraktionschef der europäischen Sozialdemokraten, MARTIN SCHULZ, wird mit den Worten zitiert (Stuttgarter Zeitung vom 9.6.05): "Wir haben jetzt die Quittung für all die Jahre bekommen, in denen sich die Regierungen mit den Erfolgen der europäischen Politik geschmückt haben und die Schuld an Fehlschlägen auf Brüssel geschoben haben."
Zwischenzeitlich ist der "Sündenbock EU" zu einem Topos geworden. Die Stuttgarter Zeitung hat ihm eine eigene Serie gewidmet. In unregelmäßigen Abständen hat sie in 16 (!) Folgen besonders abstruse Legenden über die EU zusammengetragen, die einen nicht geringen Unterhaltungswert aufweisen. Im einleitenden Artikel zu der Serie schreibt KNUT KROHN: "Jeder kennt sie, die Traktorensitzverordnung oder die Regelung der Gurkenkrümmung. Aber gibt es sie wirklich? Die Stuttgarter Zeitung klärt in den nächsten Wochen über die größten Legenden des Brüsseler Bürokratenwahns auf" (StZ vom 07.10.2005). Die einzelnen Folgen beschäftigen sich mit folgenden Mythen:
 

07.10.2005

"Die Türkei wird nach einem Beitritt die Europäische Union dominieren und allen anderen ihren Willen aufzwingen."

08.10.2005

"Die Regelungswut in Brüssel macht alles gleich."

15.10.2005

"Im Nachbarland Österreich wird erzählt, EU-Vorschriften verbieten, dass Österreicher bei Zeitungsgewinnspielen deutscher Medien teilnehmen dürfen."

18.10.2005

"Die EU plant, den Geräuschpegel in britischen Pubs und Clubs zu limitieren."

22.10.2005

"Die Euromünzen machen die Menschen krank."

24.10.2005

"Die Autofahrer Europas müssen in Zukunft europaweit einheitliche Autonummern ans Blech montieren."

25.10.2005

"In Brüssel wird an der Sturzhelmpflicht für Hochseilartisten und Trapezkünstler gearbeitet."

27.10.2005

"In Österreich geht die Angst um, dass das Land mit der neuen Verfassung die Zustimmung Deutschlands braucht, sollte es aus der EU austreten wollen."

28.10.2005

"Der Zehneuroschein macht womöglich impotent."

31.10.2005

"Die Europäische Union beschließt, dass Konfitüre nicht mehr Marmelade heißen darf."

07.11.2005

"Die Europäische Union verlangt, dass in Zukunft Spielzeug in Schweineställen liegen muss, damit sich die Tiere ablenken können."

10.11.2005

"Polizeiautos müssen in Zukunft europaweit blau gestrichen sein, und Krankenwagen fahren gelb durch die Gegend."

14.11.2005

"Die Europäische Union will die Londoner Haltestelle Waterloo Station in Europe Station umbenennen."

17.11.2005

"Die Europäische Union ändert die Definition dessen, was eine Insel ist."

05.12.2005

"EU-Bürokraten wollen Schwalben aus den Kuhställen verbannen."

07.12.2005

"Die Europäische Union verbietet berühmte Werbeslogans."

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[2]

So lautet der Titel einer grundlegenden Monographie: Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt/Main 1998.
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[3]

Beide Zitate aus: Klaus Dieter Wolf, Die Neue Staatsräson - Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2000, S. 61.
Der folgende Aufsatz fasst die hier angeführte Argumentation zusammen: Klaus Dieter Wolf, Entdemokratisierung durch Selbstbindung in der Europäischen Union; in: ders. (Hg.), Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, Baden-Baden 1997, S. 271-294.
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